Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Eine unnötige Provokation
ANALYSE Taiwan verdient als Musterdemokratie Asiens die volle Unterstützung des Westens. Inmitten großer Weltkonflikte ist es aber fahrlässig von Nancy Pelosi durch einen politischen Ego-Trip eine Eskalation zwischen den beiden atomaren Supermächten China
Eines muss man Nancy Pelosi, der Nummer drei der amerikanischen Politik, vorbehaltlos zugestehen: In den Beziehungen zu China vertritt die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses seit dem Massaker am Tiananmen-Platz eine konsequente Linie. Sie verteidigt die Demokratie gegen die totalitäre Führung der Volksrepublik – egal ob in Peking, Tibet, Hongkong oder jetzt in Taiwan. Mutig entrollte sie 1991 auf dem zentralen Platz der Demokratiebewegung in Peking ein Plakat auf Englisch und Chinesisch, auf dem sie der Opfer der Niederschlagung der Proteste gedachte.
Der Besuch der höchsten Parlamentarierin der Vereinigten Staaten in Taiwan ist trotzdem eine bodenlose Dummheit. Ohne Not provoziert die Demokratin und Parteifreundin von US-Präsident Joe Biden die Supermacht China, die Taiwan – wenn auch zu Unrecht – als abtrünnige Provinz ansieht. In einer Zeit, in der selbst außerhalb des Ukraine-Kriegs an vielen Stellen der Welt bewaffnete Konflikte drohen, ob im Kosovo, der Ägäis oder Syrien, käme ein weiterer hinzu. Und es wäre zugleich einer der gefährlichsten. Denn bei der Taiwan-Frage könnte eine direkte Konfrontation der beiden mächtigsten Staaten der Welt drohen, zumal die US-Politikerin Pelosi einer der beiden angehört.
Die Gefahr ist real. Der amerikanische Politikwissenschaftler Graham Allison hat sie nach dem altgriechischen Historiker die ThukydidesFalle genannt. Der Zeitgenosse Platons hat vom unvermeidlichen Krieg gesprochen, wenn eine Großmacht (Sparta) durch einen Aufsteiger (Athen) herausgefordert wird. Allison wandte diese Theorie auf die moderne Geschichte an und fand heraus, dass bei 16 entsprechenden Konstellationen in den vergangenen 500 Jahren zwölf mit einem Krieg endeten. Einen bewaffneten Konflikt der beiden Supermächte USA (Platzhalter) und China (Aufsteiger) hält der US-Politologe deshalb für wahrscheinlich.
Umso mehr müssen die führenden Beteiligten in einer solchen Situation alle Nebengeräusche vermeiden, selbst wenn es darum geht, dem demokratischen Taiwan ein klares Signal der Unterstützung zu senden. Denn unbedachte Provokationen
können – ähnlich wie im Ersten Weltkrieg – Eskalationen auslösen, die nicht mehr kontrollierbar sind. Zum Glück hat US-Präsident Biden der chinesischen Führung klar signalisiert, dass Pelosi nicht im Auftrag der Regierung unterwegs ist. Und auch in Peking ist der Unterschied zwischen Legislative und Exekutive im amerikanischen System wohlbekannt. China reagierte zwar mit militärischen Drohgebärden und ließ Kampfjets in das Hoheitsgebiet Taiwans einfliegen, aber die ganz große Antwort blieb vorerst aus.
Nicht einmal einen echten Wirtschaftskrieg mit seinem wichtigsten Handelspartner Taiwan (9,3 Prozent der chinesischen Importe) brach Peking vom Zaun. Die Regierung der Volksrepublik beließ es bei einem Importstopp von Zitrusfrüchten, gefrorenem Makrelenfilet und gekühltem Fisch der Sorte Haarschwanz. Anders als im Ukraine-Krieg achtet die chinesische Führung offenbar sehr genau darauf, dass einseitige Handlungen nicht zum eigenen Nachteil umschlagen.
Trotzdem zeigt die Provokation Pelosis, dass die Situation um Taiwan weltpolitisch noch gefährlicher ist als der Angriff auf die Ukraine. Aber auch hier zeigt sich, dass der Westen – und hier besonders die Bundesrepublik – vom chinesischen Markt in einer Weise abhängig ist, die für den Wohlstand hierzulande fürchten lässt. China war 2021 mit einem Volumen von 245 Milliarden Euro nicht nur der wichtigste Handelspartner Deutschlands, sondern auch ein strategischer Lieferant von Computer- und Telekommunikationszubehör, Smartphones und Chips. Ohne die Hightech-Produkte aus dem Reich der Mitte wären die Lieferketten für die deutsche Industrie entscheidend geschwächt. Das zeigten eindrucksvoll die Lockdowns der chinesischen Führung, die zu großen Engpässen in der Auto- und Elektroindustrie führten.
Nach den Erfahrungen des Ukraine-Kriegs, als Deutschland aus der Energie-Illusion erwachte, ist der neue Hotspot ein weiteres Signal für die einseitige Abhängigkeit der Wirtschaft von ihrem größten Absatz- und Zuliefermarkt. 60 Züge verkehren wöchentlich von der Endstation der neuen Seidenstraße in Duisburg nach China. Noch vor fünf Jahren waren es nur 20. Auch der Containerumschlag mit chinesischen Waren am Hamburger Hafen ist vier Mal so groß wie der mit Deutschlands drittwichtigstem Handelspartner USA. Wenn die Aufregung um Pelosis Besuch diese Zusammenhänge wieder bewusst machen würde, hätte die vermeidbare Provokation am Ende doch noch etwas Vernünftiges hervorgebracht.