Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Eine Turbine wird zum Politikum
Olaf Scholz kommt eigens nach Mülheim, um die Maschine vorzuzeigen, die dadurch Berühmtheit erlangte, dass Putin sie für die Gaslieferprobleme verantwortlich macht. Zugleich öffnet der Kanzler die Tür für eine Atomkraft-Verlängerung.
MÜLHEIM Selten stand eine Maschine so im Rampenlicht der Weltpolitik wie diese: Zwölf Meter lang ist sie, und 18,5 Tonnen schwer. Viel Stahl, graue Turbinenschaufeln, ein großer Motor. Gewöhnlich steht die Turbine in Russland, um Gas durch die Pipeline Nord Stream 1 zu befördern. Doch seit der Wartung in Kanada ist „SGT A 65“ein Politikum. Kreml-Chef Wladimir Putin nutzt sie als Vorwand, um die Gaslieferungen nach Deutschland auf 20 Prozent zu drosseln.
Zunächst war es als Staatsgeheimnis behandelt worden, wo das gute Stück steht. Nun wissen wir: Seit dem 18. Juli lagert es in einer Werkhalle bei Siemens Energy in der Ruhrgebietsstadt Mülheim. Am Mittwoch kam Kanzler Olaf Scholz dorthin, um die Turbine der Öffentlichkeit zu zeigen und den russischen Präsidenten vorzuführen: „Es gibt hier nichts Mystisches zu betrachten. Diese Turbine ist jederzeit einsetzbar, sie kann geliefert und eingebaut werden“, sagte der Kanzler. Der Abnehmer, der Gazprom-Konzern, müsse nur erklären, dass er die Turbine auch haben wolle. Es gebe keine technischen Gründe, die gegen den Einsatz sprächen. Was von russischer Seite dagegen vorgebracht werde, sei „nicht auf einer Faktenbasis nachvollziehbar“.
Christian Bruch, der Chef von Siemens Energy, versicherte, dass alle Papiere da seien: „Wir brauchen nur noch Beiträge von Gazprom – die Zoll-Dokumente, die nur Gazprom ausstellen kann.“Ohne diese Papiere übernimmt kein Spediteur der Welt die politische Maschine. „Wir können die Turbine ja nicht einfach in St. Petersburg auf die Kaimauer stellen“, meinte der Kanzler.
Die Turbine ist von Siemens im kanadischen Montreal gebaut worden und dorthin auch zur Wartung gebracht worden. Zunächst wollte Kanada sie wegen der Sanktionen gegen Russland nicht aus dem Land lassen. Deutschland machte klar, dass die Gaslieferungen – und alles was dazu gehört – nicht von den europäischen Sanktionen betroffen sind. „Wir sind Herrn Trudeau sehr dankbar“, so Scholz mit Blick auf den kanadischen Premierminister. Daraufhin wurde die
Turbine per Flugzeug zum Airport Köln/Bonn gebracht und weiter zu Siemens in Mülheim transportiert. Dort wartet sie nun darauf, von einem Spediteur abgeholt zu werden, der sie per Lkw zur Verdichterstation nach Portovaya in Russland bringt. Hier bei Siemens Energy arbeiten 4000 Mitarbeiter, die etwa Kraftwerksteile herstellen. In einer Halle war Platz für die Turbine, Sicherheitskräfte sind zur Bewachung abgestellt.
Doch der Poker geht weiter. Putin versucht, den Westen als Alternative mit der sanktionierten Röhre Nord Stream 2 zu locken: Die stehe bereit. Davon will der Kanzler nichts wissen. Die Pipeline-Kapazitäten seien nicht das Problem, sagt er. Es gebe neben Nord Stream 1 genug andere Pipelines, etwa durch die Ukraine, Belarus und Polen. „Eine hat Putin selbst sanktioniert.“
Zugleich nutzte der Kanzler den Besuch, um die Tür zur Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke zu öffnen: „Wir nehmen gerade einen weiteren Stresstest vor, der bald zu Ende sein wird.“Atomkraftwerke seien zwar nicht relevant für die Wärmeerzeugung und für die Stromerzeugung nur ein wenig. „Trotzdem kann es Sinn machen“, sagte er nach der Frage zur Laufzeit-Verlängerung. „Gerade in Bayern ist der Ausbau der erneuerbaren Energien nur sehr langsam vorangekommen“, stichelt Scholz gegen Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU).
Der Kanzler nahm die Ruhr-Visite auch zum Anlass, um die politische Geschichte hinter der Gaskrise neu zu erzählen. Er habe bereits kurz nach Amtsantritt im Dezember gefragt, ob Deutschland auf einen Komplettausfall von Gaslieferungen vorbereitet sei. „Niemand konnte mir die Frage beantworten.“In der Tat bezog sich der Notfallplan Gas mit seinen drei Stufen auf Unglücke oder Pannen, die zu regionalen oder kurzzeitigen Ausfällen führen, aber nicht auf einen dauerhaften Lieferstopp – der war unvorstellbar. Schon im Januar, also vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs, habe er Druck gemacht, so Scholz.
Der Kanzler schaut den Stahl-Koloss noch einmal wohlwollend an, als wolle er den Ölstand prüfen, nickt freundlich und verschwindet zum nächsten Termin.
„Es gibt hier nichts Mystisches, sie kann jederzeit geliefert werden“Olaf Scholz (SPD) Bundeskanzler