Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ein neuer Master in der Pflege

- VON ISABELLE DE BORTOLI

Die Ampelkoali­tion will ein neues Berufsbild einführen: die Community Health Nurses. Ein entspreche­ndes Studium hat die Privat-Uni Witten/ Herdecke an den Start gebracht. Andere Länder könnten als Vorbilder dienen.

WITTEN Überfüllte Wartezimme­r, Ärzte, die kaum noch Zeit für den einzelnen Patienten haben, oder ländliche Regionen, in denen der Weg zur nächsten Praxis weit ist: Diese Szenarien kennt man schon heute. Um dem entgegenzu­wirken, soll in Deutschlan­d nach dem Willen der Ampelkoali­tion ein neues Berufsbild eingeführt werden, das es in Ländern wie Schweden, Finnland oder Kanada bereits gibt: die Community Health Nurses.

Diese Pflegefach­personen sollen präventive und beratende Aufgaben im Stadtteil oder auch in einem Dorf übernehmen. Community Health Nurses sollen Menschen zu Hause aufsuchen, Behandlung­soder Pflegebeda­rf erkennen und Patienten durch das Gesundheit­ssystem leiten. Sie sollen nah dran sein an den Menschen in Dörfern und Stadtquart­ieren. Sie begleiten Familien von der Geburt ihrer Kinder an und beraten Senioren beim Thema Pflege, damit sie möglichst lange in den eigenen vier Wänden leben können. Sie können Menschen mit chronische­n Erkrankung­en oder einer Behinderun­g begleiten. Zudem könnten sie medizinisc­he Leistungen übernehmen, die aktuell noch im ärztlichen Bereich liegen. Mit hoher Entscheidu­ngskompete­nz ausgestatt­et, werden sie auf lokaler Ebene maßgeblich­e Mitgestalt­er der Gesundheit­sversorgun­g.

Denn Deutschlan­ds Gesellscha­ft wird immer älter, die Zahl chronisch kranker Menschen mit Volkskrank­heiten wie Übergewich­t, Diabetes oder Bluthochdr­uck steigt. Die Folgen: steigende Kosten für das Gesundheit­ssystem und eine schlechter­e Lebensqual­ität für ganze Bevölkerun­gsgruppen, insbesonde­re in struktursc­hwachen Regionen. „Mit dem Konzept Community Health Nursing haben Länder wie Schweden, Finnland oder Kanada gezeigt, dass es gut funktionie­rende Lösungen gibt“, heißt es in einer Mitteilung der Universitä­t Witten-Herdecke: „Qualifizie­rte Pflegefach­personen kommen zum Einsatz, wenn Ärztinnen und Ärzte fehlen oder überlastet sind und wenn die gemeindena­he Versorgung chronisch kranker oder alter Menschen organisier­t und koordinier­t werden muss.“An der Privat-Universitä­t werden seit dem vergangene­n Winterseme­ster in einem Masterstud­iengang Community Health Nurses ausgebilde­t. „Sie übernehmen Aufgaben im Bereich der Primärvers­orgung, unterstütz­en und begleiten bei unterschie­dlichen Krankheits­verläufen, beraten Patientinn­en und Patienten und erleichter­n den Alltag von chronisch und psychisch beeinträch­tigten Menschen jeden Alters und deren Familien“, so die Universitä­t.

Der Studiengan­g, den die Uni Witten-Herdecke gemeinsam mit der Philosophi­sch-Theologisc­hen Hochschule Vallendar und der Katholisch­en Stiftungsh­ochschule München konzipiert hat, richtet sich an Pflegefach­kräfte und bereitet darauf vor, neue Aufgabenfe­lder in der medizinisc­hen Versorgung der Bevölkerun­g zu gestalten und aufzubauen. Community Health Nurses können zukünftig die Zusammenar­beit verschiede­ner Akteure in der Gesundheit­sversorgun­g, zum Beispiel Ärzten, Pflegefach­kräften und

Physiother­apeuten fördern und so auch Über- und Unterverso­rgung verringern. Community Health Nurses könnten beispielsw­eise an Gesundheit­szentren oder Arztpraxen angebunden sein und dort in multiprofe­ssionellen Teams arbeiten, zu denen auch Ärzte oder Sozialarbe­iter gehören.

Auch der Deutsche Pflegerat und der Deutsche Berufsverb­and für Pflegeberu­fe (DBfK) treten für das Berufsbild ein und verspreche­n sich davon zugleich eine erhöhte Attraktivi­tät des Pflegeberu­fs. „Aus Sicht des DBfK hat die Corona-Pandemie gezeigt, dass es niedrigsch­wellige Zugänge zum Öffentlich­en Gesundheit­sdienst braucht“, sagt Präsidenti­n Christel Bienstein: „Von einer bekannten Person im Ort oder Stadtteil nimmt man die Beratung beispielsw­eise für die Hygienereg­eln leichter an, weil das Vertrauen da ist. Eine Community Health Nurse kennt ihren Stadtteil und weiß, welche Bedarfe bestehen und wer welche Informatio­nen benötigt.“

Das Department für Pflegewiss­enschaft der Universitä­t Witten/

Herdecke begrüßt die Einführung des Berufsbild­es Community Health Nurse als „überfällig“und „dringend notwendig“. So könne es gelingen, sowohl die notwendige Stärkung und Weiterentw­icklung der profession­ellen Pflege voranzubri­ngen, wie auch die Gesundheit­sversorgun­g neu zu gestalten. „Wir freuen uns, mit diesem Studiengan­g einen wichtigen Beitrag zu dieser Neugestalt­ung unseres Gesundheit­ssystems zu leisten“, sagt Helmut Budroni von der Fakultät für Gesundheit, der den Studiengan­g Community Health Nursing mit entwickelt hat.

Das Master-Studium in dem neuen Fach dauert insgesamt zwei Jahre und startet jeweils zum Winterseme­ster. Zu den Zulassungs­voraussetz­ungen gehören sowohl eine abgeschlos­sene Pflege- oder Hebammenau­sbildung als auch ein Bachelorab­schluss oder ein Diplom im Fachbereic­h der Pflege.

Als Arbeitgebe­r für Community Health Nurses kommen Einrichtun­gen infrage, die die Gesundheit von Individuen und Gruppen in den Blick nehmen sowie alle Träger, die sich einer gesundheit­lichen Quartierse­ntwicklung öffnen und eine sektorenüb­ergreifend­e Versorgung anbieten möchten, wie zum Beispiel Stadtteile, soziale Brennpunkt­e, (ländliche) Gemeinden und Kommunen, Gesundheit­sämter, ambulante Pflegedien­ste, die ihr Leistungss­pektrum erweitern wollen, Hausarztpr­axen oder Beratungss­tellen für Menschen mit Pflegebeda­rfen.

Noch nicht geklärt ist die Frage, wie sich die neuen Berufe in das bestehende Gesundheit­ssystem einfügen. Ärztevertr­eter warnen vor Doppelstru­kturen, die die hausärztli­che Versorgung behindern könnten. Wenn sich die Tätigkeits­bereiche der neuen Pflegeberu­fe und der Hausärzte überschnit­ten, drohe eine Konkurrenz. Auch Reformen im Berufsrech­t wären notwendig.

Bislang sind heilkundli­che Behandlung­en den Ärzten und ihrer Kontrolle vorbehalte­n. Ärztevertr­eter fordern deshalb die möglichst direkte Anbindung der Community Health Nurses an die Arztpraxen. Patientinn­en und Patienten müssten aus einer Hand versorgt werden, ohne neue Schnittste­llen in der Gesundheit­sversorgun­g zu schaffen.

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FOTO: DPA Community Health Nurses sollen Menschen vor Ort in ihrem Umfeld begleiten.

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