Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Ein neuer Master in der Pflege
Die Ampelkoalition will ein neues Berufsbild einführen: die Community Health Nurses. Ein entsprechendes Studium hat die Privat-Uni Witten/ Herdecke an den Start gebracht. Andere Länder könnten als Vorbilder dienen.
WITTEN Überfüllte Wartezimmer, Ärzte, die kaum noch Zeit für den einzelnen Patienten haben, oder ländliche Regionen, in denen der Weg zur nächsten Praxis weit ist: Diese Szenarien kennt man schon heute. Um dem entgegenzuwirken, soll in Deutschland nach dem Willen der Ampelkoalition ein neues Berufsbild eingeführt werden, das es in Ländern wie Schweden, Finnland oder Kanada bereits gibt: die Community Health Nurses.
Diese Pflegefachpersonen sollen präventive und beratende Aufgaben im Stadtteil oder auch in einem Dorf übernehmen. Community Health Nurses sollen Menschen zu Hause aufsuchen, Behandlungsoder Pflegebedarf erkennen und Patienten durch das Gesundheitssystem leiten. Sie sollen nah dran sein an den Menschen in Dörfern und Stadtquartieren. Sie begleiten Familien von der Geburt ihrer Kinder an und beraten Senioren beim Thema Pflege, damit sie möglichst lange in den eigenen vier Wänden leben können. Sie können Menschen mit chronischen Erkrankungen oder einer Behinderung begleiten. Zudem könnten sie medizinische Leistungen übernehmen, die aktuell noch im ärztlichen Bereich liegen. Mit hoher Entscheidungskompetenz ausgestattet, werden sie auf lokaler Ebene maßgebliche Mitgestalter der Gesundheitsversorgung.
Denn Deutschlands Gesellschaft wird immer älter, die Zahl chronisch kranker Menschen mit Volkskrankheiten wie Übergewicht, Diabetes oder Bluthochdruck steigt. Die Folgen: steigende Kosten für das Gesundheitssystem und eine schlechtere Lebensqualität für ganze Bevölkerungsgruppen, insbesondere in strukturschwachen Regionen. „Mit dem Konzept Community Health Nursing haben Länder wie Schweden, Finnland oder Kanada gezeigt, dass es gut funktionierende Lösungen gibt“, heißt es in einer Mitteilung der Universität Witten-Herdecke: „Qualifizierte Pflegefachpersonen kommen zum Einsatz, wenn Ärztinnen und Ärzte fehlen oder überlastet sind und wenn die gemeindenahe Versorgung chronisch kranker oder alter Menschen organisiert und koordiniert werden muss.“An der Privat-Universität werden seit dem vergangenen Wintersemester in einem Masterstudiengang Community Health Nurses ausgebildet. „Sie übernehmen Aufgaben im Bereich der Primärversorgung, unterstützen und begleiten bei unterschiedlichen Krankheitsverläufen, beraten Patientinnen und Patienten und erleichtern den Alltag von chronisch und psychisch beeinträchtigten Menschen jeden Alters und deren Familien“, so die Universität.
Der Studiengang, den die Uni Witten-Herdecke gemeinsam mit der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar und der Katholischen Stiftungshochschule München konzipiert hat, richtet sich an Pflegefachkräfte und bereitet darauf vor, neue Aufgabenfelder in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung zu gestalten und aufzubauen. Community Health Nurses können zukünftig die Zusammenarbeit verschiedener Akteure in der Gesundheitsversorgung, zum Beispiel Ärzten, Pflegefachkräften und
Physiotherapeuten fördern und so auch Über- und Unterversorgung verringern. Community Health Nurses könnten beispielsweise an Gesundheitszentren oder Arztpraxen angebunden sein und dort in multiprofessionellen Teams arbeiten, zu denen auch Ärzte oder Sozialarbeiter gehören.
Auch der Deutsche Pflegerat und der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) treten für das Berufsbild ein und versprechen sich davon zugleich eine erhöhte Attraktivität des Pflegeberufs. „Aus Sicht des DBfK hat die Corona-Pandemie gezeigt, dass es niedrigschwellige Zugänge zum Öffentlichen Gesundheitsdienst braucht“, sagt Präsidentin Christel Bienstein: „Von einer bekannten Person im Ort oder Stadtteil nimmt man die Beratung beispielsweise für die Hygieneregeln leichter an, weil das Vertrauen da ist. Eine Community Health Nurse kennt ihren Stadtteil und weiß, welche Bedarfe bestehen und wer welche Informationen benötigt.“
Das Department für Pflegewissenschaft der Universität Witten/
Herdecke begrüßt die Einführung des Berufsbildes Community Health Nurse als „überfällig“und „dringend notwendig“. So könne es gelingen, sowohl die notwendige Stärkung und Weiterentwicklung der professionellen Pflege voranzubringen, wie auch die Gesundheitsversorgung neu zu gestalten. „Wir freuen uns, mit diesem Studiengang einen wichtigen Beitrag zu dieser Neugestaltung unseres Gesundheitssystems zu leisten“, sagt Helmut Budroni von der Fakultät für Gesundheit, der den Studiengang Community Health Nursing mit entwickelt hat.
Das Master-Studium in dem neuen Fach dauert insgesamt zwei Jahre und startet jeweils zum Wintersemester. Zu den Zulassungsvoraussetzungen gehören sowohl eine abgeschlossene Pflege- oder Hebammenausbildung als auch ein Bachelorabschluss oder ein Diplom im Fachbereich der Pflege.
Als Arbeitgeber für Community Health Nurses kommen Einrichtungen infrage, die die Gesundheit von Individuen und Gruppen in den Blick nehmen sowie alle Träger, die sich einer gesundheitlichen Quartiersentwicklung öffnen und eine sektorenübergreifende Versorgung anbieten möchten, wie zum Beispiel Stadtteile, soziale Brennpunkte, (ländliche) Gemeinden und Kommunen, Gesundheitsämter, ambulante Pflegedienste, die ihr Leistungsspektrum erweitern wollen, Hausarztpraxen oder Beratungsstellen für Menschen mit Pflegebedarfen.
Noch nicht geklärt ist die Frage, wie sich die neuen Berufe in das bestehende Gesundheitssystem einfügen. Ärztevertreter warnen vor Doppelstrukturen, die die hausärztliche Versorgung behindern könnten. Wenn sich die Tätigkeitsbereiche der neuen Pflegeberufe und der Hausärzte überschnitten, drohe eine Konkurrenz. Auch Reformen im Berufsrecht wären notwendig.
Bislang sind heilkundliche Behandlungen den Ärzten und ihrer Kontrolle vorbehalten. Ärztevertreter fordern deshalb die möglichst direkte Anbindung der Community Health Nurses an die Arztpraxen. Patientinnen und Patienten müssten aus einer Hand versorgt werden, ohne neue Schnittstellen in der Gesundheitsversorgung zu schaffen.