Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ein Roman über das London von Pink Floyd

Ein Buch mit Ohrwurm-Garantie: „Wolkenatla­s“-Autor David Mitchell erfindet für sein neues Werk „Utopia Avenue“eine Band und sendet sie ins London der Swinging Sixties. Auch John Lennon, David Bowie und Mick Jagger haben Auftritte.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Eines der besten Lieder der späten 1960er-Jahre ist „Darkroom“von Utopia Avenue. Das Stück handelt von einem Typen, der im Ufo durch London düst und ein Mädchen trifft, in dessen Augen das Mondlicht glänzt. Natürlich verlieben sich die beiden, geht ja gar nicht anders bei einem Raumschiff­Piloten und einem Moonlight-Mädchen. Leider hält das Glück nicht lange. Sie fliegt fort auf einem silbernen Vogel, fieser englischer Regen setzt ein, und der verlassene Junge sucht Schutz unter einem Baum. Melancholi­e-Erprobte wissen jedoch, dass das keine gute Idee ist, denn: „Under the trees the rain rains twice“. Sehr traurig, aber auch unheimlich schön. Und wer nun denkt, verflixt, das Lied und die Band kenne ich gar nicht, ich möchte beides sofort hören, muss enttäuscht werden. Es gibt weder Gruppe noch Song.

Utopia Avenue ist eine Erfindung des britischen Schriftste­llers David Mitchell. Der hat eine ähnlich hingebungs­volle Fangemeind­e wie manche Popstars, und tatsächlic­h könnte man jedes seiner acht Bücher auch als Album bezeichnen. „Cloud Atlas“war so gesehen sein „Sgt. Pepper“, wobei „Der dreizehnte Monat“dann wie „Rubber Soul“oder „Revolver“anmutet, also schöner ist, herzlicher, rührender und besser geeignet für diese Momente, in denen man Musik nicht hören, sondern trinken möchte. Um im Bild zu bleiben: „Utopia Avenue“, der neue Roman über die gleichnami­ge Band, könnte „Let It Be“sein. Überproduz­iert und nicht so umwerfend wie erhofft, aber man kann doch nicht aufhören, zuzuhören, und am Ende ist es schade, dass es vorbei ist.

Mitchell benutzt das Swinging London als Hintergrun­d, um eine Band hineinzuze­ichnen, die es tatsächlic­h gegeben haben könnte. Ihm gelingt das Kunststück, dass man zum Fan dieser Musiker wird, dass man ihren über mehrere Monate detailreic­h ausgebreit­eten Alltag begleitet, als folgte man ihnen bei Instagram. Und vor allem: Man meint ihre Lieder zu hören, obwohl sie doch nie erklingen, sondern bloß beschriebe­n und abgedruckt werden. „Utopia Avenue“steckt voller Ohrwürmer, „Darkroom“ist der intensivst­e: „Under the trees the rain rains twice“.

Utopia Avenue ist eine psychedeli­sche Folkrockba­nd, die der Musikmanag­er Levon Frankland aus hoffnungsv­ollen Nachwuchsm­usikern

zusammenge­stellt hat. Sängerin und Pianistin Elf Holloway wirkt wie eine Wiedergäng­erin von Sandy Denny, die einst Teil von Fairport Convention war und auf dem vierten Album von Led Zeppelin sang. Dean Moss hat etwas von James Dean, nur dass er statt eines Messers immer seinen Bass dabei hat. Griff Griffin ist Jazz-Drummer. Und Jasper de Zoet ist der geniale Gitarrist, der etwas Entrücktes hat und von seinen Ausflügen ins Ungefähre wunderbare Kompositio­nen mitbringt.

Aber eben nicht nur er: Es gibt drei Songwriter bei Utopia Avenue, und dadurch entstehen Reibung und Funkenflug. Zwei Alben wird die Band veröffentl­ichen, sie werden sie aus den Clubs in Soho ins Fernsehen katapultie­ren und in die amerikanis­chen Charts. Eine Tragödie beendet den Höhenflug zunächst. Dann tauchen verscholle­n geglaubte Aufnahmen auf und holen die Gruppe Jahrzehnte später in den Fokus eines retroselig­en Publikums zurück.

Manche Episoden der Bandgeschi­chte wirken klischiert, als habe Mitchell sie aus den Biografien der Stones, Beatles und Co. abgewandel­t: Verhaftung­en wegen Drogenbesi­tzes, ungewollte Vaterschaf­t, legendär verbockte und grandios gelungene Konzerte. Man liest es dennoch gerne, und man freut sich über die Begegnunge­n der erfundenen Band mit echten Stars. Mick Jagger flippt auf einer Party herum, John Lennon versteckt sich unter einem Tisch, der spindeldür­re frühe Bowie erweist der Gruppe in einem Treppenhau­s seine Ehre. Pink Floyd entwickeln sich vom Geheimtipp

zu Weltstars, und Leonard Cohen schmeichel­t sonor. Sie bleiben indes Abziehfigu­ren, nur manchmal gibt es tiefere Einblicke. Janis Joplin klagt über die Frauenfein­dlichkeit der Musikindus­trie: „Wir bleiben nur die, die aufgerisse­n werden.“Und Jerry Garcia von den Grateful Dead seufzt: „1966 ging alles in Erfüllung, was du wolltest. 1968 ging auch in Erfüllung, was du nicht wolltest.“1968 ist denn auch das Schicksals­jahr für Utopia Avenue.

An seinen besten Stellen verdichtet sich der Roman zu einem Epochenpor­trät, zu einer Sozialgesc­hichte der Nachkriegs­zeit, die von der Freude an der Oberfläche erzählt, das Abdriften in die Psychedeli­k schildert und den Ausverkauf der Hippie-Ideale beklagt. Mitchell baut Brücken in sein eigenes Werk, Fans dürften sich über Zitate, Leitmotive und Rückkopplu­ngen freuen. Levon Frankland etwa kam auch schon in „Die Knochenuhr­en“vor. Jasper de Zoet ist ein Nachfahre von Jacob de Zoet, dem Titelhelde­n von „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“, und gelegentli­ch erklingt das „Wolkenatla­s-Sextett“.

Die Form des Romans ist dennoch weitgehend traditione­ll, was bei einem Autor wie Mitchell eine Enttäuschu­ng

ist. Wie angeflansc­ht wirkt der Ausflug ins Übersinnli­che gegen Ende. Die einzelnen Teile sind wie Alben gestaltet, jedes Kapitel ein Song. Man liest und sehnt sich an diesen Ort zu jener Zeit. Man mag nicht wahrhaben, dass es diese Band nicht gegeben hat. Mitchell erklärt, wie befreiend Musik wirken, wie viel Kraft ein Popsong entwickeln kann. Dennoch wird man den Verdacht nicht los, dass er statt eines 750-Seiten-Romans lieber ein drei Minuten langes Lied geschriebe­n und zum Klingen gebracht hätte.

„Under the trees the rain rains twice.“

 ?? FOTO: GETTY ?? Pink Floyd im August 1968 (v. l.): Nick Mason, David Gilmour, Rick Wright, Roger Waters.
FOTO: GETTY Pink Floyd im August 1968 (v. l.): Nick Mason, David Gilmour, Rick Wright, Roger Waters.

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