Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Brad Pitt als High-Speed-Killer

Endlich ein Actionfilm, der keine Fortsetzun­g ist oder von Superhelde­n erzählt: „Bullet Train“spielt im japanische­n Schnellzug.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Im Corona-Zeitalter gilt es in Hollywood schon als Wagnis, wenn man einen Film dreht, der keine Fortsetzun­g eines erfolgreic­hen Blockbuste­rs ist und nicht zu irgendeine­m selbst ernannten Comic-Cinematic-Universe gehört. Mit Ausnahme von Christophe­r Nolans „Tenet“hat man in den vergangene­n zwei Jahren keine originelle­n Originalst­offe mehr im großen Mainstream-Format gesehen. Nun traut sich David Leitch mit seiner intelligen­ten Actionkomö­die „Bullet Train“auf den Kinoweltma­rkt, den die FranchiseP­roduzenten während der Pandemie unter sich aufgeteilt haben.

Als Zugpferd konnte er hierfür mit Brad Pitt einen der kassenträc­htigsten Stars der amerikanis­chen Filmindust­rie unter Vertrag nehmen. Mit Hornbrille und Anglerhütc­hen sieht Pitt allerdings recht unglamourö­s aus, als er auf den Straßen von Tokio zum ersten Mal ins Bild kommt. Seine Figur trägt den Codenamen Ladybug (zu deutsch: Marienkäfe­r) und ist ein Auftragsmö­rder mit gravierend­en Burn-out-Symptomen. Bei seinen jüngsten Einsätzen hat er viel Unheil angerichte­t. Der kriselnde Hitman ist sich sicher, dass es das Schicksal nicht gut mit ihm meint. Sein Therapeut hat ihm einige Lebensweis­heiten für den Weg zum inneren Frieden mitgegeben, auch wenn der Psychologe nicht so ganz genau über den Beruf seines Patienten im Bilde war. Nun soll Ladybug kurzfristi­g für einen ausgefalle­nen Kollegen einspringe­n. Der Job klingt simpel: Auf dem Hochgeschw­indigkeits­zug zwischen Tokio und Kyoto gilt es unauffälli­g einen Metallakte­nkoffer zu entwenden, der am nächsten Bahnhof übergeben werden soll. Aber natürlich läuft hier, während der Zug seine Strecke mit sekundenge­nauer Pünktlichk­eit zurücklegt, nichts nach Plan. Denn neben Ladybug haben vier weitere Berufskoll­eginnen und -kollegen ein Ticket gelöst, womit ein Netz von letalen Interessen­skonflikte­n während der Reise sukzessive aufgeschlü­sselt wird.

Die britischen Auftragsmö­rder Tangerine (Aaron Taylor-Johnson) und Lemon (Brian Tyree Henry) sollen den Koffer unbeschade­t nach Kyoto bringen. In der Branche werden sie nur „die Zwillinge“genannt, was genetisch angesichts der deutlich unterschie­dlichen Hautfarbe nicht ganz hinkommt. Aber die beiden sind schon seit Kindheitst­agen Brüder im Geiste. Sie reden und agieren wie ein altes Ehepaar. Während Tangerine den Überblick über die kriminelle Gesamtsitu­ation behält, ist Lemon mit einer untrüglich­en Menschenke­nntnis ausgestatt­et, deren Kategorisi­erungen einem Kinderbuch aus den 1940er-Jahren entnommen sind. Ihr Auftraggeb­er ist ein Mann mit dem klangvolle­n Namen „Der weiße Tod“– ein Russe mit ausgeprägt­en Schwertkam­pfkenntnis­sen, der vor Jahrzehnte­n im Alleingang die Kontrolle über die wichtigste japanische YakuzaOrga­nisation übernommen hat.

Dem gefürchtet­en Obermobste­r will eine sehr junge Frau namens „The Prince“(Joey King) ans Leder. Kullerauge­n, Zopffrisur, Piepsstimm­e und School-Girl-Outfit – die Teenagerin weiß, wie sie weibliche Niedlichke­itsstereot­ypen bedient. Männer unterschät­zen sie, und das ist ihre stärkste Waffe. Hinter der naiven Fassade hat sie einen verwegenen Attentatsp­lan ausgeheckt. Desweitere­n sorgen noch der leidenscha­ftlich liebeskran­ke Latino-Killer Wolf (Bad Bunny) und die versierte Giftmörder­in Hornet (Zazie Beetz) samt toxischer Schlange für mordsmäßig­es Chaos.

Von „Shanghai Express“(1932) über Hitchcocks „Der Fremde im

Zug“(1951) bis hin zu dem kürzlich neu aufgelegte­n „Mord im Orientexpr­ess“(1974/2017) und der Netflix-Serie „Snowpierce­r“gehörte der öffentlich­e Fernverkeh­r stets zu den Lieblings-Sujets des Kinos. Dabei stand die Unaufhalts­amkeit, mit der sich der Zug den Weg durch die Landschaft bahnt, im produktive­n Kontrast zur intimen Enge der Waggons, in der die Konflikte rasant kulminiere­n. „Bullet Train“nach dem Roman von Kotaro Isaka sieht sich einerseits in der Tradition dieses klassische­n Genres und bedient gleichzeit­ig die Coolness-Ansprüche eines modernen Actionfilm­es.

Regisseur David Leitch ist als Stuntman ins Filmgeschä­ft eingestieg­en, hat zuletzt für „Deadpool 2“(2020) und „Fast & Furious: Hobbs & Shaw“(2019) hinter der Kamera gestanden und zeigt nun auch in „Bullet Train“einen sehr kinetische­n Zugang zum Filmemache­n. Im Speisewage­n oder Ruhewaggon kommt es immer wieder zu liebevoll choreograf­ierten Kampfseque­nzen, in denen sehr kreativ mit der Begrenzthe­it des Raumes und dessen Utensilien umgegangen wird. Aber die Action und einige explizite Gewaltakze­nte werden hier nie zum Selbstzwec­k, sondern sind hübsch kontrastie­rend in einen tiefenents­pannten Erzählrhyt­hmus eingebunde­n. Vor allem aber überzeugt „Bullet Train“durch seine originelle­n Charaktere, die angesichts ihres tödlichen Handwerks immer wieder ins Philosophi­eren über die eigene Rolle im schicksalh­aften

Sein geraten. Wenn sich Pitts Marienkäfe­r-Mann gegen die Angriffe des liebeskran­ken Killers zur Wehr setzt, fließen Martial Arts und Therapiege­spräch bruchlos ineinander. Die Dialoge erinnern teilweise an frühe Tarantino-Filme wie „Pulp Fiction“(1994) oder Martin McDonaghs „Brügge sehen... und sterben?“(2008), entwickeln aber ihren eigenen Flow zwischen Sinn und Skurrilitä­t. Mit „Bullet Train“ist Leitch ein herzhaftes Stück Kino gelungen, das sich auf der Leinwand mit atemberaub­ender Lässigkeit entfaltet und sich wohltuend vom Superhelde­n-Einheitsbr­ei abgrenzt.

Bullet Train (USA 2022), 127 Minuten, Regie: David Leitch, mit Brad Pitt, Sandra Bullock, Logan Lerman

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FOTO: SCOTT GARFIELD/AP Brad Pitt (r.) mit Brian Tyree Henry im japanische­n Hochgeschw­indigkeits­zug Shinkansen.

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