Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Tanz am Abgrund einer Amour fou
„Warten auf Bojangles“ist ein Drama um die halsbrecherische Liebe eines Paares, das in den 50er-Jahren Konventionen trotzt - belastet von einer Krankheit der Frau.
BONN (kna) Bei Camille (Virginie Efira) und Georges (Romain Duris) wirkt zunächst alles wie eine sexy Unangepasstheit. Ihre Liebesgeschichte läuft sofort auf Hochtouren, bis sich die Perspektive auf beider Verhalten nach und nach aufspaltet, während das Paar auf einem halsbrecherischen Grat versucht, dennoch beieinanderzubleiben. Georges ist dann derjenige mit der bewusst rebellischen Haltung, die er bereut, und Camille kommt in eine Klinik.
Ohne den Fachbegriff der bipolaren Störung zu bemühen oder tatsächlich eine Krankengeschichte zu erzählen, entfesselt Regis Roinsard in seiner zunächst vor Lebenslust berstenden Verfilmung von Olivier Bourdeauts gleichnamigem Bestseller „Warten auf Bojangles“einen Tanz am Abgrund einer Amour fou und wendet sich dabei allmählich vom Glück zur Finsternis.
Es beginnt mit einem Rausch. Im standesbewussten Frankreich der späten 1950er-Jahre lernen sich auf einer Party Camille und Georges kennen und blitzartig lieben. Beide attraktiv, beide „Enfants terribles“. Schon ihr Kennenlernen pfeift auf Konventionen: Camille bevorzugt es, jeden Tag mit einem anderen Vornamen angesprochen zu werden, Georges gibt sich vor den indignierten Gästen unter anderem als Hersteller von Harpunen zur Fliegenjagd und als Nachfahre des Grafen Dracula aus. Noch in derselben Nacht wird in einer Kapelle geheiratet und auf dem Altar auch gleich die Ehe vollzogen. Am nächsten Morgen ist Camille verschwunden, es bleibt nur ein weißer Schal zurück, eine Vorwegnahme eines möglichen Verlusts.
Wie Camille und Georges zieht auch der Regisseur alle Register romantischer Verführung. Das Leben scheint für die mitreißend lustige Camille ein erotisches Spiel zu sein, und der nicht minder vor sich hinflunkernde Georges und flugs gezeugte Sohn Gary (Solan Machado-Graner) spielen gerne mit. Drei Dinge gibt es, die sich dem exzentrischen Trio entgegenstellen: die Normalen, das, was diese für die Normalität halten, und deren mangelnde
Vorstellungskraft, dass alles jeden Tag ganz anders sein könnte.
Als Georges täglich zur Arbeit aufbricht, löst das bei Camille Einsamkeitsattacken aus, deren Theatralik nicht mehr gespielt scheint. Duris lässt den drohenden Einbruch des Schrecklichen mit Wucht auf seinen Trallala-Georges zurollen, indem er zunächst immer eine Spur zu lausbübisch, zu billig grinst, bis ihm die Fassungslosigkeit über den Ernst der Lage ins Gesicht geschrieben steht. Demgegenüber kann Efira auf ihrem Gesicht schon von Anfang an binnen Sekundenbruchteilen zwischen hinreißendstem Lachen und verzweifelter Wut wechseln.
Leider vermag die Erzählung zwischen Pathologisierung des Weiblichen, Bejahung von Exzentrik und leisem Zweifel an einer damit einhergehenden Freiheit keine Haltung zu finden, die über das Private und Schicksalhafte hinausginge. Stattdessen wiederholt und spiegelt sich die auf Rührung gebürstete Story im titelgebenden Lied „Mister Bojangles“von Jerry Jeff Walker: Interpretiert mit androgynem Schmelz vom Singer-Songwriter Marlon Williams, geht es aufs Herzergreifendste um das Leben am Rand der Gesellschaft, das Hochspringen und tief Landen und die Trauer um einen Gefährten.
Warten auf Bojangles (Frankreich/ Belgien 2022), 125 Minuten, Regie: Régis Roinsard, mit Romain Duris, Virginie Efira