Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Zurück im Zelt
Das Oktoberfest zieht nach zwei Jahren weniger Besucher an als sonst. Wer kommt, feiert dafür umso ausgelassener. Ansonsten ist alles wie immer – bis hin zu den auch dieses Jahr gewaltig gestiegenen Preisen für Bier und Backhendl.
MÜNCHEN Erstmals nach drei Jahren steht an diesem Nachmittag der alte Geruch in der Wirtsbudenstraße in der Luft, wie früher: gebrannte Mandeln und Zuckerwatte, gebratene Hendl und Bier, später kommt noch etwas Urin hinzu. Es werden wieder die Dinge verkauft, die man noch nie brauchte: Lebkuchenherzl, Brotzeitbrettl oder die recht dämlich aussehenden Filzhüte.
Der Trubel ist wieder losgegangen auf der Münchner Theresienwiese beim Oktoberfest, dem weltweit größten Volksfest, das zuletzt 2019 stattgefunden hatte und in den Jahren 2020 und 2021 wegen Corona abgesagt werden musste. Alles glücklicherweise wie immer,
Frühere Volksfeste in diesem Jahr zeigen, dass die Inzidenzen danach in die Höhe schnellten
wie früher? Oder ist das – die Pandemie besteht weiterhin – eine gewagte, womöglich verantwortungslose Angelegenheit? Und wie lässt es sich überhaupt feiern angesichts Ukraine-Krieg, Energie- und Wirtschaftskrise?
An diesem Nachmittag, so der Eindruck, ist sichtbar weniger los in den Straßen, bei den Fahrgeschäften, in den Zelten als zu einem vergleichbaren Zeitpunkt vor drei oder mehr Jahren. Die ersten Zahlen der Oktoberfest-Organisatoren von der Stadt München bestätigen das: Am ersten Wiesn-Tag wurden 700.000 Besucherinnen und Besucher gezählt, 2019 war es eine Million. Das miese Wetter mit Kälte und Regen sei daran schuld, mutmaßen manche Betreiber.
Am 80 Meter hohen „Skyfall“Turm, der die Besucher nach unten stürzen und deren Mägen sich zusammenziehen lässt, ertönt wieder das Disco-Gewummer. Am „Top Spin“gegenüber sind die gellenden Schreie der Menschen, vor allem der jungen Frauen zu hören, die dort in den Sitzen in alle Himmelsrichtungen durchgewirbelt werden.
Klar sichtbar ist eine Veränderung des Publikums, die schon von einem Wiesn-Wirt wie Christian Schottenhamel vorhergesagt wurde: „Es kommen wahrscheinlich weniger ältere Leute, weil sie sich nicht wohl fühlen wegen Corona.“Dafür aber mehr Jüngere – „und die wollen“, so Schottenhamel, „den Stress und die Einschränkungen der letzten zwei Jahre mal hinter sich lassen.“Er hofft, dass diese das Fest zum Ausgleich zwei oder drei Mal besuchen werden.
Vor der Wiesn-Leitung am westlichen Ende des Geländes bildet sich eine lange Schlange, um die 70 Menschen. Eine Polizistin, die am Eingang steht, sagt: „Die Leute haben etwas verloren und suchen danach.“Das gehört zum normalen WiesnAlltag. Kaum etwas gibt es, was nicht schon im Fundbüro abgegeben wurde: Gebisse, ausgezogene Lederhosen, Rollstühle.
Daneben sind die Sanitäter untergebracht. Markus Strobl, Sprecher der Oktoberfest-Ambulanz, kommt gelassen und lächelnd aus den Behandlungsräumen: „Es läuft etwas ruhiger an als sonst.“Am vergangenen Abend gab es, so erzählt er, „316 Behandlungen, meist wegen zu hohen Alkoholkonsums“. 2019 waren es zum Vergleich 558.
Ganz in der Nähe, aber von weit oben, sieht die Bavaria zu. Die grün-schwärzliche Frauenstatue aus Bronze, 18,52 Meter hoch, ist die Symbolgestalt für den Freistaat schlechthin. Sie schaut herab auf das, was ihre Bayern in diesem Herbst 2022 treiben. Ist dieses Oktoberfest bezüglich Corona ein sehr großes Menschenexperiment mit ungewissem Ausgang? Voraufgegangene kleinere Volksfeste in diesem Jahr zeigen, dass die Inzidenzen danach in die Höhe schnellten, die Krankenhäuser aber dennoch nicht überlastet waren. Ob das auch für die Wiesn gilt, ist ungewiss.
Der horrende Energieverbrauch ist in diesem Jahr ein immer wieder kritisiertes Thema in Zeiten von Gas- und Stromknappheit. Die Wirte haben immerhin ein wenig reagiert: Sie verzichten auf Heizstrahler in den Außenbereichen der Biergärten. Keinem ist verborgen geblieben, dass das Oktoberfest eine kostspielige Angelegenheit ist. Die Maß Bier ist zwischen 12,60 und 13,80 Euro zu haben – knapp 16 Prozent mehr als 2019. Ein halbes Hendl schlägt mit 14,50 Euro zu Buche, in Bio-Qualität sind es 24,50 Euro. Da ist der Kartoffelsalat aber noch nicht dabei, er macht 5,50 Euro extra.
Die großen Zelte – da wird dicht an dicht gesungen, getanzt und getrunken. Maske trägt niemand. Der Münchner Virologe Oliver Keppler hat die Wahrscheinlichkeit, sich während mehrerer Stunden im Bierzelt mit Corona zu infizieren, bei einer Skala von eins bis zehn auf „neun bis zehn“eingeschätzt. Beim Schottenhamel ist die Stimmung um 16 Uhr noch ein bisschen mau, die Band stimmt an: „Wir kommen alle, alle, alle in den Himmel – weil wir so brav sind.“Das ändert sich schlagartig mit dem unverwüstlichen „YMCA“– das Zelt tanzt, singt, grölt, bebt. Wiesn wie immer, das möchten sie jetzt gerne glauben.