Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Unbequeme Wahrheiten“in Sachen Energie
Liefe alles nach Plan beim Braunkohleausstieg, müssten im Kraftwerk Neurath zum Jahresende zwei 600-Megawatt-Blöcke vom Netz gehen – trotz Energieknappheit und Preisexplosion. Politik und Wirtschaft im Rhein-Kreis drängen auf Entscheidungen.
RHEIN-KREIS Die Stromversorgung im Rhein-Kreis Neuss zu wettbewerbsfähigen Preisen sicherstellen, das war dem Kreistag einen dringenden Appell wert – nicht jetzt angesichts der explodierenden Energiekosten in Folge des Krieges in der Ukraine, sondern bereits Mitte Dezember vergangenen Jahres. Die Sorge damals: Mit einem beschleunigten Ausstieg aus der Braunkohleverstromung bereits 2030 könnte vor allem die energieintensive Industrie in der Region in Bedrängnis geraten.
Eine Forderung Ende 2021: Gaskraftwerke sollen als Übergangstechnologie die Stromversorgung sichern, bis erneuerbare Energien ausreichend und stabil zur Verfügung stehen. Und nun? Mit dem Krieg in der Ukraine ist Gas Mangelware, die Preissteigerung ist ungebrochen, Stromerzeugung aus Gas scheint in einer Situation, in der unklar ist, ob im nächsten und vermutlich auch im übernächsten Winter überhaupt genug Gas zum Heizen vorhanden ist, keine Option mehr.
Rainer Thiel (SPD), Vorsitzender des Kreistagsausschusses für Strukturwandel und Arbeit, fordert deshalb von der Bundes- und Landesregierung schnelle Entscheidungen, um die Energieversorgung bestmöglich zu sichern. Zwar werden drei 300-Megawatt-Braunkohle-Blöcke in den Kraftwerken Neurath und Niederaußem aus der Reserve wieder aktiviert werden, das, so Thiel, reiche aber nicht: „Im Kohleverstromungsbeendigungsgesetz (KVBG) ist der Ausstiegspfad der einzelnen Kohlekraftwerke verbindlich festgelegt. Danach müssten noch im Dezember zwei 600-Megawatt-Blöcke – das entspricht der Leistung eines Atomkraftwerks – in Neurath verbindlich abgeschaltet werden.“Dies, so der Ausschussvorsitzende, bedeute eine weitere Verknappung des Stromangebotes mit entsprechend weiter steigenden Preisen. RWE geht bislang davon aus, den Kohleausstieg planmäßig, wie es das Gesetz vorsieht, fortzusetzen.
Das Problem: Eigentlich sind im Ausstiegsgesetz Revisionstermine vorgesehen, die dazu dienen sollen, die Folgen des Kohleausstiegs 2035 beziehungsweise 2038 mit Blick auf die Versorgungssicherheit und die Sozialverträglichkeit zu untersuchen. Der erste Revisionstermin am 15. August hat jedoch nicht stattgefunden. „Auf Nachfrage dazu wird in Berlin auf die aktuelle Lage und die insgesamt unübersichtliche Situation verwiesen“, sagt Thiel. Er drängt zur Entscheidung: „Die Regierung muss ihre Hausaufgaben machen.“Ein Betrieb der 600-Megawatt-Blöcke über den Dezember hinaus könne einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit und Preisdämpfung leisten.
Zudem gehörten die politischen Bekundungen auch aus der Landesregierung, den Braunkohleausstieg auf 2030 vorzuziehen, zur Überprüfung mit ins Revisionsverfahren. „Der Ausbau der erneuerbaren Energien stockt, Gas als Übergangstechnologie steht nicht wie erwartet zur Verfügung“, sagt Thiel. Vor 2025 sei schon mit Blick auf die Landesentwicklungsplanung mit einem verstärkten Ausbau von Windkraft und
Fotovoltaik nicht zu rechnen. Der Kohleausstieg 2030 sei daher unrealistisch. „Das ist eine unbequeme Wahrheit, aber sie muss ausgesprochen werden, damit man reagieren und neu planen kann“, sagt der Ausschussvorsitzende. Deshalb sei es auch wichtig, den ausgefallenen Revisionstermin schnellstmöglich nachzuholen. Eine Alternative zu einem politisch definierten Ausstiegszeitpunkt sei es, mit dem auch vom Bundesverfassungsgericht bereits ins Spiel gebrachten CO2-Restbudget Deutschlands zu arbeiten. 6,7 Giga-Tonnen sollen das sein. Thiel könnte sich vorstellen, den Ausbau der erneuerbaren Energien und auch die Beschaffungsstrategien für Energieimporte, etwa für grünen Wasserstoff, an diesem C02-Restbudget auszurichten: „Das Restbudget muss die Schrittfolge vorgeben, nicht ein letztlich willkürlich politisch gesetztes Datum wie 2030.“
Dass die Zeit für Entscheidungen drängt, zeigt auch ein gemeinsamer Brief von IHK und DGB an Thiel in seiner Funktion als Vorsitzender des Ausschusses für Strukturwandel und Arbeit. Kammer und Gewerkschaftsbund verweisen auf Großhandelspreise für Gas und Strom, die sich im Jahresvergleich versiebenfacht hätten. Die Folge: Energie- und Rohstoffpreise entwickelten sich zum Konjunkturrisiko Nummer eins. IHK und DGB bitten deshalb um Unterstützung der Kreisebene bei ihren Forderungen nach einer Reduzierung der Stromsteuer und der Energiesteuer auf Erdgas auf das europäische Mindestmaß und die Übernahme weiterer Umlagen in den Bundeshaushalt.
Im Kreistag am 28. September kommt das Thema auf die Tagesordnung. Die einzelnen Fraktionen arbeiten an ihrer Positionierung. Ziel ist ein gemeinsames Positionspapier oder ein Appell an Bund und Land. Thiel ist optimistisch, dass dies gelingt. Der Druck sei hoch: „Das Rheinische Revier wird vom Strom-Exporteur zum Strom-Importeur“, sagt der Kreispolitiker. Wirtschaft und Bevölkerung seien auf eine Versorgung mit ausreichendem und bezahlbarem Strom dringend angewiesen.
Meldungen über Produktionseinschränkungen wie beim Aluminiumproduzenten Speira in Neuss, aber auch existenzielle Notlagen im Mittelstand und im Handwerk häuften sich. In dieser Situation brauche es Signale, dass alle Möglichkeiten, um über den Winter zu kommen, auch ausgeschöpft würden. Die beiden 600-Megawatt-Blöcke im Kraftwerk Neurath weiterlaufen zu lassen, könne ein Schritt in diese Richtung sein.