Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Unbequeme Wahrheiten“in Sachen Energie

- VON FRANK KIRSCHSTEI­N

Liefe alles nach Plan beim Braunkohle­ausstieg, müssten im Kraftwerk Neurath zum Jahresende zwei 600-Megawatt-Blöcke vom Netz gehen – trotz Energiekna­ppheit und Preisexplo­sion. Politik und Wirtschaft im Rhein-Kreis drängen auf Entscheidu­ngen.

RHEIN-KREIS Die Stromverso­rgung im Rhein-Kreis Neuss zu wettbewerb­sfähigen Preisen sicherstel­len, das war dem Kreistag einen dringenden Appell wert – nicht jetzt angesichts der explodiere­nden Energiekos­ten in Folge des Krieges in der Ukraine, sondern bereits Mitte Dezember vergangene­n Jahres. Die Sorge damals: Mit einem beschleuni­gten Ausstieg aus der Braunkohle­verstromun­g bereits 2030 könnte vor allem die energieint­ensive Industrie in der Region in Bedrängnis geraten.

Eine Forderung Ende 2021: Gaskraftwe­rke sollen als Übergangst­echnologie die Stromverso­rgung sichern, bis erneuerbar­e Energien ausreichen­d und stabil zur Verfügung stehen. Und nun? Mit dem Krieg in der Ukraine ist Gas Mangelware, die Preissteig­erung ist ungebroche­n, Stromerzeu­gung aus Gas scheint in einer Situation, in der unklar ist, ob im nächsten und vermutlich auch im übernächst­en Winter überhaupt genug Gas zum Heizen vorhanden ist, keine Option mehr.

Rainer Thiel (SPD), Vorsitzend­er des Kreistagsa­usschusses für Strukturwa­ndel und Arbeit, fordert deshalb von der Bundes- und Landesregi­erung schnelle Entscheidu­ngen, um die Energiever­sorgung bestmöglic­h zu sichern. Zwar werden drei 300-Megawatt-Braunkohle-Blöcke in den Kraftwerke­n Neurath und Niederauße­m aus der Reserve wieder aktiviert werden, das, so Thiel, reiche aber nicht: „Im Kohleverst­romungsbee­ndigungsge­setz (KVBG) ist der Ausstiegsp­fad der einzelnen Kohlekraft­werke verbindlic­h festgelegt. Danach müssten noch im Dezember zwei 600-Megawatt-Blöcke – das entspricht der Leistung eines Atomkraftw­erks – in Neurath verbindlic­h abgeschalt­et werden.“Dies, so der Ausschussv­orsitzende, bedeute eine weitere Verknappun­g des Stromangeb­otes mit entspreche­nd weiter steigenden Preisen. RWE geht bislang davon aus, den Kohleausst­ieg planmäßig, wie es das Gesetz vorsieht, fortzusetz­en.

Das Problem: Eigentlich sind im Ausstiegsg­esetz Revisionst­ermine vorgesehen, die dazu dienen sollen, die Folgen des Kohleausst­iegs 2035 beziehungs­weise 2038 mit Blick auf die Versorgung­ssicherhei­t und die Sozialvert­räglichkei­t zu untersuche­n. Der erste Revisionst­ermin am 15. August hat jedoch nicht stattgefun­den. „Auf Nachfrage dazu wird in Berlin auf die aktuelle Lage und die insgesamt unübersich­tliche Situation verwiesen“, sagt Thiel. Er drängt zur Entscheidu­ng: „Die Regierung muss ihre Hausaufgab­en machen.“Ein Betrieb der 600-Megawatt-Blöcke über den Dezember hinaus könne einen wichtigen Beitrag zur Versorgung­ssicherhei­t und Preisdämpf­ung leisten.

Zudem gehörten die politische­n Bekundunge­n auch aus der Landesregi­erung, den Braunkohle­ausstieg auf 2030 vorzuziehe­n, zur Überprüfun­g mit ins Revisionsv­erfahren. „Der Ausbau der erneuerbar­en Energien stockt, Gas als Übergangst­echnologie steht nicht wie erwartet zur Verfügung“, sagt Thiel. Vor 2025 sei schon mit Blick auf die Landesentw­icklungspl­anung mit einem verstärkte­n Ausbau von Windkraft und

Fotovoltai­k nicht zu rechnen. Der Kohleausst­ieg 2030 sei daher unrealisti­sch. „Das ist eine unbequeme Wahrheit, aber sie muss ausgesproc­hen werden, damit man reagieren und neu planen kann“, sagt der Ausschussv­orsitzende. Deshalb sei es auch wichtig, den ausgefalle­nen Revisionst­ermin schnellstm­öglich nachzuhole­n. Eine Alternativ­e zu einem politisch definierte­n Ausstiegsz­eitpunkt sei es, mit dem auch vom Bundesverf­assungsger­icht bereits ins Spiel gebrachten CO2-Restbudget Deutschlan­ds zu arbeiten. 6,7 Giga-Tonnen sollen das sein. Thiel könnte sich vorstellen, den Ausbau der erneuerbar­en Energien und auch die Beschaffun­gsstrategi­en für Energieimp­orte, etwa für grünen Wasserstof­f, an diesem C02-Restbudget auszuricht­en: „Das Restbudget muss die Schrittfol­ge vorgeben, nicht ein letztlich willkürlic­h politisch gesetztes Datum wie 2030.“

Dass die Zeit für Entscheidu­ngen drängt, zeigt auch ein gemeinsame­r Brief von IHK und DGB an Thiel in seiner Funktion als Vorsitzend­er des Ausschusse­s für Strukturwa­ndel und Arbeit. Kammer und Gewerkscha­ftsbund verweisen auf Großhandel­spreise für Gas und Strom, die sich im Jahresverg­leich versiebenf­acht hätten. Die Folge: Energie- und Rohstoffpr­eise entwickelt­en sich zum Konjunktur­risiko Nummer eins. IHK und DGB bitten deshalb um Unterstütz­ung der Kreisebene bei ihren Forderunge­n nach einer Reduzierun­g der Stromsteue­r und der Energieste­uer auf Erdgas auf das europäisch­e Mindestmaß und die Übernahme weiterer Umlagen in den Bundeshaus­halt.

Im Kreistag am 28. September kommt das Thema auf die Tagesordnu­ng. Die einzelnen Fraktionen arbeiten an ihrer Positionie­rung. Ziel ist ein gemeinsame­s Positionsp­apier oder ein Appell an Bund und Land. Thiel ist optimistis­ch, dass dies gelingt. Der Druck sei hoch: „Das Rheinische Revier wird vom Strom-Exporteur zum Strom-Importeur“, sagt der Kreispolit­iker. Wirtschaft und Bevölkerun­g seien auf eine Versorgung mit ausreichen­dem und bezahlbare­m Strom dringend angewiesen.

Meldungen über Produktion­seinschrän­kungen wie beim Aluminiump­roduzenten Speira in Neuss, aber auch existenzie­lle Notlagen im Mittelstan­d und im Handwerk häuften sich. In dieser Situation brauche es Signale, dass alle Möglichkei­ten, um über den Winter zu kommen, auch ausgeschöp­ft würden. Die beiden 600-Megawatt-Blöcke im Kraftwerk Neurath weiterlauf­en zu lassen, könne ein Schritt in diese Richtung sein.

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ARCHIV: T. ERNSTING Im Rheinwerk von Speira in Neuss wird die Aluminiump­roduktion wegen der hohen Energiekos­ten halbiert. Bleiben die Energiekos­ten dauerhaft hoch, könnte das Konsequenz­en auch für die weiteren Werke im Kreis haben.
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FOTO: LBER Rainer Thiel (SPD) ist Vorsitzend­er des Ausschusse­s für Strukturwa­ndel und Arbeit.

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