Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Der Sinn für das Gemeinsame
ANALYSE Zum Tag der Deutschen Einheit richtet sich der Blick beinahe reflexhaft auf die Probleme in Ostdeutschland. Doch sollte an diesem Nationalfeiertag nicht das Trennende im Fokus stehen. Das ist in Krisenzeiten doppelt schwierig.
Beinahe wie im Reflex richtet sich der Blick am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, häufig zuerst auf den Osten Deutschlands. In Grußworten und Analysen ist dann von der immer noch bestehenden Kluft zwischen Ost und West die Rede, von niedrigeren Löhnen und Vermögen im Osten, von der Abwanderung junger Menschen, vom wachsenden Misstrauen in den Staat. Ganz so, als wäre der Osten die Problemzone Deutschlands. So entsteht schnell ein verzerrtes Bild.
Keine Frage: Die Strukturbrüche, die viele Menschen in Ostdeutschland erlebt haben, und der schwierige Beginn im wiedervereinigten Deutschland in den 90er-Jahren haben Konsequenzen bis ins Jetzt. Sie beeinflussen den Blick auf die gegenwärtige Krise. Doch wäre nicht der Einheitstag ein Anlass, sich auf das Verbindende zwischen Ost und West zu konzentrieren anstatt auf das Trennende? Der Duden definiert das Wort „Einheit“als eine in sich geschlossene Ganzheit, Verbundenheit oder innere Zusammengehörigkeit. Wo also ist der Sinn für das Gemeinsame?
Er findet sich beispielsweise in den politischen Stimmen zu diesem Feiertag wieder. „Der Fall der Mauer und die knapp ein Jahr später vollzogene deutsche Einheit werden für die allermeisten Deutschen stets ein Tag der großen Freude bleiben“, sagt Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). Angesichts der tiefgreifenden Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine mahnt Haseloff zugleich an, sich „nicht gegeneinander ausspielen“zu lassen. Brandenburgs Regierungschef Dietmar Woidke (SPD) betont, dass der Einheitstag bewusst kein Tag nur von oder für Ostdeutschland sein solle, im Gegenteil: „Auch wenn die Erfahrungen in Ost und West nach 1989 sehr unterschiedlich waren, bietet dieser Feiertag die Gelegenheit, sich gemeinsam zu erinnern und nach vorne zu blicken“, sagt Woidke.
Und ihre westdeutsche Amtskollegin Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, will gerade in schwierigen Zeiten beweisen, „wie stark wir als geeintes Land sind“. Dreyer betont: „Das dürfen und sollen wir feiern.“Bei diesem Nationalfeiertag würdige man „Freiheit und Frieden in unserem Land und das Zusammenwachsen des früher getrennten Deutschlands“.
Zu einem vollständigen Bild gehört aber auch die Tatsache, dass die Proteste gegen die Politik in der Bundesrepublik zunehmen und das Vertrauen in die Demokratie schwindet. Gerade in ostdeutschen Städten wie Leipzig, Erfurt, Zwickau oder Schwerin wird montags wieder demonstriert – gegen die stark steigenden Energiepreise, gegen die Russland-Sanktionen oder ganz allgemein gegen die Bundesregierung. Wie der neue Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung zeigt, sind im Osten nur noch 31 Prozent der Bürger mit der politischen Situation zufrieden – das ist ein Rückgang von neun Prozentpunkten im Vergleich zu 2020. Auch im Westen schwindet die Zufriedenheit, hier ist der Rückgang sogar noch stärker: von 54 Prozent vor zwei Jahren auf heute 44 Prozent.
Der Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke verweist auf einen weiteren Aspekt aus dem Bericht: Eine Mehrheit der Ostdeutschen fühle sich als Bürger zweiter Klasse, wie schon in den vergangenen 30 Jahren. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands brach ein Großteil der Arbeitsplätze weg, die von Helmut Kohl angekündigten „blühenden Landschaften“blieben aus, und ganze Generationen fühlten sich orientierungslos. Die Soziologie hat dafür den Begriff der Anomie: „Die alten Strukturen und Normen gelten nicht mehr, und die neuen sind nicht zureichend wahrgenommen und anerkannt“, erklärt Funke: „In Krisenzeiten
wie diesen verstärkt sich diese Wahrnehmung noch.“
Damit verbunden sei eine „erhebliche Distanz zur Demokratie“, die auch im Westen Deutschlands zunehme, sagt der Wissenschaftler. Wenn ein diffuses und widersprüchliches Erscheinungsbild der Politik hinzukomme, verstärkten sich die Politikverdrossenheit und auch die Distanz zur Demokratie, so der Extremismusforscher. „Daran schließen sich vor allem verschwörungsideologische Bewegungen wie die Corona-Leugner-Demonstrationen an, die sich nun erneut gerade rechts radikalisieren“, betont Funke.
Was lässt sich dem entgegensetzen? Wer soll es richten? Wir alle, lautet knapp zusammengefasst die Antwort des Ostbeauftragten Carsten Schneider (SPD). „Die Demokratie ist nicht selbstverständlich, und wir müssen auch heute alles tun, um sie zu bewahren. Demokratie ist aber keine Dienstleistung, sie lebt davon, dass Menschen sich einbringen“, sagt Schneider: „Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – in West wie Ost.“Wenn die Unzufriedenheit wachse, heiße die zentrale Aufgabe Dialog – „ob auf politischen Versammlungen, im Sportverein oder am Abendbrottisch“, so Schneider.
Diese Aufgabe wird nicht leichter in Zeiten eines Krieges mitten in Europa. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff sagt mit Blick auf den russischen Angriffskrieg und seine Auswirkungen auf den Alltag: „Heute sind Solidarität und Gemeinsinn wichtiger denn je.“Und die rheinland-pfälzische Regierungschefin Dreyer erinnert „an die mutigen Menschen in der damaligen DDR, die sich friedfertig und mit ihrer ganzen Kraft gegen die Diktatur gestemmt, die Welt bewegt und aus Deutschland wieder ein geeintes Land gemacht haben“.
Der Tag der Deutschen Einheit, der in diesem Jahr turnusgemäß von Thüringen ausgerichtet wird, steht unter dem Motto „Zusammenwachsen, um zusammenzuwachsen“. Darin steckt Hoffnung und Mahnung zugleich. In jedem Fall sind Westen und Osten gleichermaßen gemeint.
„Demokratie ist keine Dienstleistung, sie lebt davon, dass Menschen sich einbringen“Carsten Schneider (SPD) Ostbeauftragter der Bundesregierung