Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Es muss Schluss sein mit Klein-Klein“
Der SPD-Vorsitzende über die deutsche Einheit und wie die Regierung den Sorgen im Land begegnen will.
Herr Klingbeil, wir begehen den Tag der Deutschen Einheit. Wie steht es Ihrer Einschätzung nach um die Einheit im Land? KLINGBEIL Was die Ost-West-Frage betrifft, sind wir vorangekommen. Wir haben eine stärkere Deutsche Einheit, als es etwa vor zehn Jahren noch der Fall war. Der Osten ist attraktiv, das zeigen die Industrieansiedlungen von Intel und Tesla. Und auch zu Recht deutlich selbstbewusster. Aber unser Land befindet sich gerade insgesamt in einer Zeit der starken Polarisierung. Zwei Jahre Pandemie, der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise, die Klimakrise – das macht was mit den Menschen.
Die Sorgen treiben viele Menschen auch auf die Straße...
KLINGBEIL Bei diesen Protesten muss man sehr genau trennen. Es gibt viele, die haben große Sorgen, wie sie bei den massiven Preissteigerungen über die Runden kommen sollen. Das nehme ich sehr ernst. Um diejenigen muss Politik sich kümmern, und das tun wir. Wir haben drei Entlastungspakete geschnürt, wir erhöhen in diesem Monat den Mindestlohn auf zwölf Euro, davon profitieren viele Millionen Menschen vor allem im Osten, wir nehmen 200 Milliarden Euro in die Hand, um die Energiepreise deutlich zu senken. Aber es gibt eben unter den Protestlern auch solche, die schon gegen Flüchtlinge, gegen Corona-Maßnahmen, für Russland unterwegs waren und jetzt versuchen, die berechtigten Sorgen zu instrumentalisieren und unser Land zu spalten. Das dürfen wir nicht zulassen. Das ist auch keine Frage von Ost/West.
Am Dienstag treffen sich Bund und Länder. Die Länder haben eine lange Liste an Wünschen erarbeitet. Was ist Ihre Botschaft an die Ministerpräsidentenkonferenz? KLINGBEIL Ich habe in den letzten Tagen immer wieder gesagt: Es muss jetzt ein Ruck durch alle politischen Ebenen gehen. Es muss Schluss sein mit dem Klein-Klein, mit Streit und mit Blockaden. Diesen Ruck spüren wir jetzt mit dem 200-Milliarden-Euro-Paket, mit der Strom- und Gaspreisbremse. Die Ampel hat geliefert. Und ich erwarte, dass jetzt auch die Konservativen auf Länderebene diesen Ruck nicht ausbremsen. Am Ende geht es doch darum, dass wir uns alle der Wucht der Krise bewusst sind, zusammenstehen und gemeinsam unser Land durch diese Zeit bringen.
Muss Bundeskanzler Olaf Scholz da ein Machtwort sprechen? KLINGBEIL Das 200-Milliarden-Euro-Paket der Bundesregierung unter Führung von Olaf Scholz ist ein Durchbruch. Ein Machtwort, wenn Sie so wollen. Es ist das klare Zeichen: Diese Regierung wird alles tun, was notwendig ist, um die Preise wieder runterzubekommen und Arbeitsplätze zu sichern. Von dieser gigantischen Summe werden alle profitieren: Familien, Studierende, Rentnerinnen und Rentner genauso wie kleine und große Unternehmen. Und sie wird helfen, unser Land durch eine schwierige Zeit zu bringen. Denn vor uns liegt ein Winter, der für sehr viele Menschen herausfordernd werden kann.
Die Gaspreisbremse und die Strompreisbremse sind für mich der richtige Schritt. Es muss nun schnell ein konkretes Modell für den Eingriff in den Gasmarkt her. Die finanziellen Mittel stehen jetzt umfassend bereit.
Gibt es auch Projekte, von denen Sie sich verabschieden? Ist das Bürgergeld der richtige Weg? KLINGBEIL Wir müssen den sozialen Zusammenhalt stärken, gerade in schwierigen Zeiten. Da dürfen wir keinen Zentimeter nachlassen. Weil wir den Wert eines Landes, das nicht gespalten ist wie Frankreich, die USA oder Italien, doch gerade sehen. Wir leben in einer stabilen Demokratie. Das ist ein hoher Wert an sich. Darauf können wir stolz sein. Und das hat eben mit einem starken Sozialstaat zu tun. Und deswegen werden wir beispielsweise auch unser Ziel, die Kinderarmut stärker zu bekämpfen, auf jeden Fall weiterverfolgen.
Wir haben multiple Krisen, sie haben vor einem Jahr die Bundestagswahl gewonnen. Macht Ihnen Politik noch Freude?
KLINGBEIL Vor einem Jahr haben die ersten Sondierungsgespräche stattgefunden, und es kommt mir vor, als wären seitdem drei Legislaturperioden vergangen. Es ist wahnsinnig viel passiert, es gab noch nie eine
Bundesregierung, die zu ihrem Start so viele Krisen gleichzeitig bewältigen musste. Aber es ist ein Privileg, diesen Job zu machen und als Partei den Bundeskanzler zu stellen. Damit haben wir Verantwortung übernommen. Ich habe den Anspruch, dass die Menschen in drei Jahren auf diese Regierung blicken und sagen: Die haben uns gut durch diese Krisen gebracht.
Friedrich Merz hat von „Sozialtourismus“mit Blick auf Ukraine-Flüchtlinge gesprochen, dann dafür um Entschuldigung gebeten. Die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland steigt jedoch massiv. Ist das nicht ein Problem für ein jetzt ohnehin bedrängtes Land? KLINGBEIL Das war keine Entschuldigung, sondern ein Zurückrudern unter Druck. Ich kenne solche rhetorischen Muster von der AfD. Das ist unanständig für einen Vorsitzenden der Partei von Angela Merkel. Sie hätte niemals Politik auf dem Rücken von Geflüchteten gemacht. Friedrich Merz will vor der Landtagswahl in Niedersachsen Stimmen am rechten Rand fischen. Aber das ist nicht aufgegangen. Die Menschen in unserem Land sind klüger, als Friedrich Merz denkt.