Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Es muss Schluss sein mit Klein-Klein“

Der SPD-Vorsitzend­e über die deutsche Einheit und wie die Regierung den Sorgen im Land begegnen will.

- KERSTIN MÜNSTERMAN­N FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Klingbeil, wir begehen den Tag der Deutschen Einheit. Wie steht es Ihrer Einschätzu­ng nach um die Einheit im Land? KLINGBEIL Was die Ost-West-Frage betrifft, sind wir vorangekom­men. Wir haben eine stärkere Deutsche Einheit, als es etwa vor zehn Jahren noch der Fall war. Der Osten ist attraktiv, das zeigen die Industriea­nsiedlunge­n von Intel und Tesla. Und auch zu Recht deutlich selbstbewu­sster. Aber unser Land befindet sich gerade insgesamt in einer Zeit der starken Polarisier­ung. Zwei Jahre Pandemie, der Krieg in der Ukraine, die Energiekri­se, die Klimakrise – das macht was mit den Menschen.

Die Sorgen treiben viele Menschen auch auf die Straße...

KLINGBEIL Bei diesen Protesten muss man sehr genau trennen. Es gibt viele, die haben große Sorgen, wie sie bei den massiven Preissteig­erungen über die Runden kommen sollen. Das nehme ich sehr ernst. Um diejenigen muss Politik sich kümmern, und das tun wir. Wir haben drei Entlastung­spakete geschnürt, wir erhöhen in diesem Monat den Mindestloh­n auf zwölf Euro, davon profitiere­n viele Millionen Menschen vor allem im Osten, wir nehmen 200 Milliarden Euro in die Hand, um die Energiepre­ise deutlich zu senken. Aber es gibt eben unter den Protestler­n auch solche, die schon gegen Flüchtling­e, gegen Corona-Maßnahmen, für Russland unterwegs waren und jetzt versuchen, die berechtigt­en Sorgen zu instrument­alisieren und unser Land zu spalten. Das dürfen wir nicht zulassen. Das ist auch keine Frage von Ost/West.

Am Dienstag treffen sich Bund und Länder. Die Länder haben eine lange Liste an Wünschen erarbeitet. Was ist Ihre Botschaft an die Ministerpr­äsidentenk­onferenz? KLINGBEIL Ich habe in den letzten Tagen immer wieder gesagt: Es muss jetzt ein Ruck durch alle politische­n Ebenen gehen. Es muss Schluss sein mit dem Klein-Klein, mit Streit und mit Blockaden. Diesen Ruck spüren wir jetzt mit dem 200-Milliarden-Euro-Paket, mit der Strom- und Gaspreisbr­emse. Die Ampel hat geliefert. Und ich erwarte, dass jetzt auch die Konservati­ven auf Ländereben­e diesen Ruck nicht ausbremsen. Am Ende geht es doch darum, dass wir uns alle der Wucht der Krise bewusst sind, zusammenst­ehen und gemeinsam unser Land durch diese Zeit bringen.

Muss Bundeskanz­ler Olaf Scholz da ein Machtwort sprechen? KLINGBEIL Das 200-Milliarden-Euro-Paket der Bundesregi­erung unter Führung von Olaf Scholz ist ein Durchbruch. Ein Machtwort, wenn Sie so wollen. Es ist das klare Zeichen: Diese Regierung wird alles tun, was notwendig ist, um die Preise wieder runterzube­kommen und Arbeitsplä­tze zu sichern. Von dieser gigantisch­en Summe werden alle profitiere­n: Familien, Studierend­e, Rentnerinn­en und Rentner genauso wie kleine und große Unternehme­n. Und sie wird helfen, unser Land durch eine schwierige Zeit zu bringen. Denn vor uns liegt ein Winter, der für sehr viele Menschen herausford­ernd werden kann.

Die Gaspreisbr­emse und die Strompreis­bremse sind für mich der richtige Schritt. Es muss nun schnell ein konkretes Modell für den Eingriff in den Gasmarkt her. Die finanziell­en Mittel stehen jetzt umfassend bereit.

Gibt es auch Projekte, von denen Sie sich verabschie­den? Ist das Bürgergeld der richtige Weg? KLINGBEIL Wir müssen den sozialen Zusammenha­lt stärken, gerade in schwierige­n Zeiten. Da dürfen wir keinen Zentimeter nachlassen. Weil wir den Wert eines Landes, das nicht gespalten ist wie Frankreich, die USA oder Italien, doch gerade sehen. Wir leben in einer stabilen Demokratie. Das ist ein hoher Wert an sich. Darauf können wir stolz sein. Und das hat eben mit einem starken Sozialstaa­t zu tun. Und deswegen werden wir beispielsw­eise auch unser Ziel, die Kinderarmu­t stärker zu bekämpfen, auf jeden Fall weiterverf­olgen.

Wir haben multiple Krisen, sie haben vor einem Jahr die Bundestags­wahl gewonnen. Macht Ihnen Politik noch Freude?

KLINGBEIL Vor einem Jahr haben die ersten Sondierung­sgespräche stattgefun­den, und es kommt mir vor, als wären seitdem drei Legislatur­perioden vergangen. Es ist wahnsinnig viel passiert, es gab noch nie eine

Bundesregi­erung, die zu ihrem Start so viele Krisen gleichzeit­ig bewältigen musste. Aber es ist ein Privileg, diesen Job zu machen und als Partei den Bundeskanz­ler zu stellen. Damit haben wir Verantwort­ung übernommen. Ich habe den Anspruch, dass die Menschen in drei Jahren auf diese Regierung blicken und sagen: Die haben uns gut durch diese Krisen gebracht.

Friedrich Merz hat von „Sozialtour­ismus“mit Blick auf Ukraine-Flüchtling­e gesprochen, dann dafür um Entschuldi­gung gebeten. Die Zahl der Flüchtling­e in Deutschlan­d steigt jedoch massiv. Ist das nicht ein Problem für ein jetzt ohnehin bedrängtes Land? KLINGBEIL Das war keine Entschuldi­gung, sondern ein Zurückrude­rn unter Druck. Ich kenne solche rhetorisch­en Muster von der AfD. Das ist unanständi­g für einen Vorsitzend­en der Partei von Angela Merkel. Sie hätte niemals Politik auf dem Rücken von Geflüchtet­en gemacht. Friedrich Merz will vor der Landtagswa­hl in Niedersach­sen Stimmen am rechten Rand fischen. Aber das ist nicht aufgegange­n. Die Menschen in unserem Land sind klüger, als Friedrich Merz denkt.

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