Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
So plant Neuss trotz Krise für die Zukunft
Wie kommt Neuss durch die Energie- und Wirtschaftskrise? Wo steht die Stadt in 25 Jahren? Fragen an Bürgermeister Reiner Breuer (SPD).
Herr Bürgermeister, erst Corona, dann der Krieg in der Ukraine mit all seinen Folgen für die Bürger, aber auch für Unternehmen: Welche Möglichkeiten haben die Stadt und ihre Tochterunternehmen, um Unternehmen zu unterstützen? REINER BREUER Wir können Vertrauen schaffen und uns als verlässlichen Partner auch in einer solchen Krisenzeit präsentieren. Das tun wir seit Beginn des Ukrainekrieges, der uns in seinen Auswirkungen erst jetzt Stück für Stück richtig erreicht. Die Neusser Stadtwerke haben frühzeitig, insbesondere mit ihren Großkunden, Kontakt aufgenommen und für einen vertraulichen und konstruktiven Austausch gesorgt. Dabei hat auch die IHK Mittlerer-Niederrhein unterstützt.
Worum geht es im Kern bei diesem Austausch?
BREUER Ziel ist es, dass wir uns bestmöglich zu der Frage austauschen, ob und wann eine Gasmangellage entstehen kann und welche Auswirkungen sie auf die Unternehmen in der Stadt Neuss hätte. Derzeit ist nicht abzuschätzen, ob oder in welchem Umfang es Entscheidungen der Bundesnetzagentur zu Einschränkungen bei der Gasbelieferung geben wird. Die aktuelle Lage – die sich aber morgen schon wieder ändern kann – lässt vermuten, dass sehr weitreichende Maßnahmen hier in Neuss eher nicht zu erwarten sind.
Wie reagieren die Unternehmen? BREUER Wir registrieren, dass einzelne Unternehmen ihre Prozesse oder sogar Energieträger umgestellt haben und so einen Beitrag leisten, dass weniger Gas verbraucht wird. Wir merken auch, dass Stromsparmaßnahmen ergriffen werden. Die Entscheidung der Neusser Aluminiumhütte zur Halbierung Ihrer Produktion ist eine solche Entscheidung, die sehr viel Energie spart - mit allerdings gravierenden negativen Auswirkungen für die Arbeitnehmer, die um ihren Job bangen.
Was kann die Stadt selbst tun? BREUER Die Stadtverwaltung selbst spart mit einem umfangreichen Maßnahmenpaket an vielen Stellen Energie ein. Auch die Neusser Stadtwerke tun dies, so zum Beispiel in den Neusser Bädern. Die Stadtwerke selbst sind ansonsten auch ein wirtschaftlich tätiges Unternehmen. Sie müssen die Preisanstiege, die sie im Einkauf von Gas und Strom zahlen, an die Kunden weitergeben. Die Stadtwerke haben gut eingekauft, mussten bisher nicht so massiv die Preise erhöhen, wie andere.
Das geht aber nicht auf Dauer, oder? BREUER Es zeichnet sich ab, dass zum Jahreswechsel eine deutliche Preisanpassung notwendig wird, wenn sich die Lage nicht grundlegend ändert. Das heißt: Viel können die Stadtwerke zur finanziellen Entlastung der Kunden nicht beitragen. Wir haben es mit einer Lage zu tun, die durch die Folgen des UkraineKrieges des russischen Präsidenten Wladimir Putin bestimmt wird. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Gaspipeline zwischen Russland und Deutschland kein Gas mehr liefert – mit den entsprechenden Auswirkungen auf den Markt. In dieser Situation sind Bund und Länder gefordert, entsprechende gesetzliche Regelungen zum sozialen Ausgleich und zur wirtschaftlichen Stabilisierung zu schaffen. Wir können nur versuchen, über Lobbyarbeit zu erreichen, dass wir selbst nicht unter die Räder kommen.
Das heißt konkret?
BREUER Auch Stadtwerke in Deutschland brauchen einen Schutzschirm. Es geht darum, die Liquidität der Stadtwerke zu sichern, damit sie zahlungsund leistungsfähig bleiben. Zwar haben die Stadtwerke mit der Stadt Neuss einen potenten Gesellschafter an Bord, aber die Aufgabe ist anspruchsvoll. Stadtwerke anderenorts haben bereits ernst zu nehmende Probleme. Als Energieversorger gehen Stadtwerke beim Einkauf in Vorleistung. Zahlungsausfälle auf Kundenseite schlagen, sofern es dazu kommt, voll auf die Liquidität durch.
Die Energiekrise trifft auch viele Unternehmen in der Innenstadt: Schadet das Ihren Plänen, die Innenstadt wieder attraktiver zu machen?
BREUER Wir haben zum Glück unsere Hausaufgaben in der Vergangenheit gemacht, um die Neusser Innenstadt attraktiv zu halten, Handel und Gastronomie zu sichern, auch über die Corona-Krise hinweg. Wir sind natürlich nicht komplett krisenfest in Neuss, aber wir haben Krisen bisher immer sehr gut bewältigt.
Wie hat Neuss die Höhepunkte der Corona-Pandemie verkraftet? BREUER In der Corona-Krise hat sich einmal mehr gezeigt, dass wir ein starkes Fundament in der Wirtschaft haben und breit aufgestellt sind. Deshalb bricht nicht sofort alles weg, wenn Probleme auftauchen. Das hilft. Wir haben in den vergangenen Jahren einiges getan, um die Wirtschaft zu unterstützen, gerade auch in der Gastronomie. Das zahlt sich jetzt auch aus. Da ist der Atem vielleicht etwas länger. Mit Blick auf die aktuelle Krise können wir aber nur beschränkt helfen. Wir sind in Gesprächen, wir hören gut zu, sehen, was wir selbst im eigenen Wirkungskreis unternehmen können. Wir können aber nicht Ausfallbürge für Bund und Länder sein, die die notwendigen Finanzierungstöpfe nicht bereitstellen.
Die Stadt kann finanziell nicht helfen?
BREUER Das sehe ich nicht, wir leiden selbst massiv unter der Krise. Es würde schlicht die Leistungsfähigkeit der Stadt und der Kommunen und ihrer kommunalen Unternehmen wie gerade den Stadtwerken überschreiten, wenn wir jetzt selbst Unterstützungsleistungen vergeben würden.
Noch einmal zur Energiewende: Windkraft gibt es in Neuss derzeit nur sehr beschränkt. Welche Lösungen gibt es?
BREUER Wir denken regional, deshalb sind wir über die Stadtwerke mit sehr viel Geld an Onshore-Windkraftanlagen beteiligt. Insofern haben wir bereits voll auf Windenergie gesetzt. Das Windpotenzial in einer so eng besiedelten Region wie der unseren ist beschränkt. Dennoch bin ich bereit, ergebnisoffen zu prüfen, ob wir in Neuss nicht noch einige Windkraftanlagen mehr bauen können. Mit sechs Windenergieanlagen in einer Stadt mit 100 Quadratkilometer Fläche drängt sich schon der Eindruck auf, dass da noch etwas geht.
Könnte das auch in kreisweiten Kooperationen gehen?
BREUER Wir haben nichts gegen einen regionalen oder kreisweiten Austausch in dieser Frage. Vielleicht könnte es ein Ergebnis sein, dass Windkraft gebündelt an bestimmten Stellen im Rhein-Kreis ausgebaut wird. Die Notwendigkeit, auch in der Eigenproduktion Windenergie herzustellen, ist auf jeden Fall zwingend gegeben, ebenso wie der Ausbau der Photovoltaik. Da haben wir an Geschwindigkeit gewonnen. Wir sind gerade aktiv dabei, die stadteigenen Immobilien mit Solarenergie zu versorgen. Über 100 Immobilien haben wir dazu lokalisiert und sind im engen Austausch mit Fördergebern zur weiteren Planung und Umsetzung. Über Neuss sollen sich Baukräne drehen, diese Parole haben Sie schon zum Start Ihrer ersten Wahlperiode ausgegeben. Auf was sind Sie rückblickend besonders stolz? Und was hätte besser laufen können?
BREUER Wo wir es selbst in der Hand haben, läuft es gut. Beispiel ist der soziale Wohnungsbau auf dem Areal der ehemaligen Sauerkrautfabrik Leuchtenberg. Wir kommen weiter im Bereich des Augustinusviertels/ Alexianergeländes. Aber es gibt auch andere Bereiche, in denen es stockt. Schuld ist die aktuelle Entwicklung der Baupreise in der Bauwirtschaft. Die Investitionsbereitschaft der Unternehmen ist derzeit spürbar rückläufig. Es gibt mehrere Projekte, bei denen wir uns freuen würden, wenn es schneller gehen könnte: PierburgAlt zum Beispiel, dort könnte es raschere Fortschritte geben. Bei „Bauer & Schaurte“, dem Areal der ehemaligen Schraubenfabrik am Hauptbahnhof, verlaufen die Gespräche gut. Dort könnte es bald schon losgehen. Ich hoffe, dass die Investoren bei der Stange bleiben. Für das alte Werhahn-Gelände am Hafenbecken I wurde jetzt erneut der Satzungsbeschluss gefasst. Wir geben grünes Licht für das Baurecht. Ich hoffe, dass es nicht wieder Klagen aus der Nachbarschaft gibt, die den Fortschritt bremsen. Und der Investor muss natürlich in der gesetzten Frist auch den Bauantrag auf den Weg bringen.
Was bremst die Bauwirtschaft? BREUER Die Bauwirtschaft ist in einer schwierigen Lage. Ich kann nachvollziehen, dass Investoren mit den Baupreisen hadern, denn die sind derzeit enorm hoch. Ein Problem ist auch, dass die Grundstücke hoch spekulativ gehandelt werden, bis an die 1000 Euro pro Quadratmeter. Das macht wenig Freude, nicht nur dem Käufer, sondern auch der Stadt. Wir müssen anschließend in der Planung um jeden Quadratmeter für bezahlbaren Wohnraum kämpfen. Wenn die Ausgangskosten über spekulative Grundstückspreise so hoch sind, dann geht das zulasten der Möglichkeiten für eine Quersubventionierung von bezahlbarem Wohnraum.
Wir sehen das sehr kritisch und haben uns im Stadtrat das Instrument der Vorkaufsrechte gesichert. Davon machen wir zunehmend auch Gebrauch.
Ab Dienstag sind Sie unterwegs auf der Internationalen Immobilienmesse Expo Real in München. Wann präsentieren Sie dort das Projekt Wendersplatz? 2023?
BREUER Eigentlich bräuchten wir es gar nicht mitnehmen, wenn die drei Nutzergruppen, die dort vorgesehen sind, sicherstellen, dass die Konzeption als Frequenzbringer mit Synergieeffekten stimmt und dass der Bau seriös finanziert werden kann. Bei realistischer Betrachtungsweise müssen wir beim Projekt Wendersplatz von einer Zeitperspektive 2030 plus ausgehen. Wir haben die Entwicklung des bisherigen Rennbahnparks als Bürgerpark fest im Blick zur Landesgartenschau 2026. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Das müssen wir zuerst auf den Weg bringen.
Der Wendersplatz muss also warten?
BREUER Nicht unbedingt. Eine Entwicklung mit verschiedenen Geschwindigkeiten ist denkbar. Ich schließe nicht aus und fände es auch gar nicht schlecht, wenn das, was umsetzungsreif ist, auch in die Umsetzung kommt. Das heißt: Die Pläne der Industrie- und Handelskammer für einen ,Zukunftscampus Berufliche Bildung‘ könnten vielleicht vorgezogen werden. Wir müssen aber insgesamt darauf achten, dass wir uns nicht überheben. Die Landesgartenschau kostet viel Kraft und ist ein wichtiges städtebauliches Projekt und auch ein Projekt der Klimaanpassung. Man kann nicht alles auf einmal machen. Das würde unsere Ressourcen personell wie finanziell überfordern.
Wird die gesamte Stadt, auch die Innenstadt, von der Landesgartenschau profitieren?
BREUER Vom Markt aus ist die Gartenschau zum Greifen nahe. Wir planen eine im Kern innerstädtische Gartenschau, das war auch ein Grund, warum Neuss den Zuschlag bekommen hat. Positive Wechselwirkungen wird es sicher geben. Die Landesgartenschau wird die Innenstadt aufblühen lassen. Bis 2026 werden wir mit der Neugestaltung des Übergangs vom Wendersplatz über die Batteriestraße weiter sein. Die Innenstadt ist damit vom Gartenschaugelände aus unmittelbar erreichbar.
Was bedeutet das für das Verkehrskonzept zur Gartenschau?
BREUER Die Besucher werden nicht nur mit dem Auto kommen, sondern auch mit dem Rad, der Bahn, der Straßenbahn und, wenn wir den neuen Steiger am Hafenbecken I verstärkt nutzen, sogar mit dem Schiff. Wir wollen den ÖPNV für die Besucher attraktiv machen und besonders bewerben, wissen aber auch, dass es weiter motorisierten Individualverkehr geben wird. Deshalb werden auch ausreichend Parkplätze zur Verfügung stehen.
Wie geht es nach der Landesgartenschau weiter? Was wird zum Beispiel aus dem Kirmesplatzgelände, das ja auch ein attraktives Gewerbegrundstück sein könnte?
BREUER Könnte es sicher sein, jedoch stellen wir die Entscheidung zurück. Wir planen das Landesgartenschaugelände auf dem Bürgerpark so, dass alles möglich bleibt. Es wäre aber falsch, den Planungs- und Ideenprozess jetzt mit einer Diskussion über eine Verlegung des Kirmesplatzes in den Bereich der früheren Stallungen zu belasten. Eine Verlegung kann man machen, muss man aber nicht. Das schauen wir uns nach der Landesgartenschau gemeinsam mit den Schützen in Ruhe an.
Wie stellt die Stadt Neuss sicher, dass sie auch in Zukunft über ausreichende Gewerbeflächen für Expansion und Neuansiedlungen von Unternehmen verfügt?
BREUER Wir haben noch Freiflächen, aber die finden sich in der Regel nicht auf der grünen Wiese. Die Kapazitäten sind beschränkt. Konversionsflächen spielen eine große Rolle. Wobei Konversion immer auch bedeutet, dass ein Unternehmen erst einmal etwas aufgeben muss, damit Raum für Neues entsteht. Bauer & Schaurte ist so ein Fall, früher ein bekanntes Industrieunternehmen, jetzt Platz für ein neues Quartier zum Wohnen und Arbeiten.
Gibt es genug Raum, um Unternehmen, die in Neuss expandieren wollen, zu halten?
BREUER Bestandsunternehmen haben bei der Suche nach Flächen Vorrang. Ich erinnere daran, dass wir zum Beispiel für Maoam ein sehr großes Grundstück in Holzheim reserviert halten. Das ist richtig so – und Maoam zahlt dafür auch. Generell haben wir nicht genügend Freiflächen. Wir müssen aber auch abwägen, was an Flächen vorhanden ist, was entwickelbar und was gesellschaftlich durchzusetzen ist. Leider müssen wir feststellen, dass die Widerstände größer werden. Auch in der Politik werden sehr viel schneller Partikularinteressen zum Allgemeininteresse erhoben. Das müssen wir mit der Politik noch einmal diskutieren. Vielleicht ändern sich Haltungen, wenn deutlich wird, dass die Stadt erheblich an Gewerbesteuer verliert, wenn sich Unternehmen nicht entwickeln können oder gar den Standort verlassen. Die Folge wäre, dass die Stadt Ausgaben einschränken müsste und Aufgaben die wichtig und gewollt sind, um die Lebensqualität zu sichern, nicht mehr übernehmen könnte.
In Meerbusch nimmt das Global Entrepreneurship Centre Fahrt auf, in Grevenbroich könnte auf dem Kraftwerksgelände ein Hyperscale-Rechenzentrum als Kern für ein starkes Cluster von IT- und digitalaffinen Unternehmen entstehen... Wo und wie kann Neuss von der Dynamik des Strukturwandels im Rheinischen Revier profitieren? BREUER Die Sorge, dass Neuss im Wettbewerb mit neuen Standorten in der Region das Nachsehen haben könnte, teile ich nicht: Neuss hat – schon seit 2030 Jahren – einen Vorteil, den andere nicht haben: die besondere Lagegunst am Rhein. Wir haben uns immer weiterentwickelt. Neuss verfügt über eine herausragende Infrastruktur, auch eine besondere Lebensqualität, was auch durch Umfragen zu belegen ist. In Neuss kann man gut wirtschaften und arbeiten. Das bleibt unser Standortvorteil gegenüber anderen Kommunen, die in unserer Umgebung Flächen anzubieten haben.
Was ist Ihre Vision für die Stadt Neuss in 25 Jahren?
BREUER Ich bin mir sicher, dass wir weiter eine internationale, gut aufgestellte Stadt mit hoher Lebensqualität sind, mit guten Arbeitsplätzen, dabei deutlich digitaler. Wir sind in 25 Jahren weitgehend klimaneutral, unsere Energieversorgung wird nachhaltiger sein, unsere Mobilität ebenso – flexibel, digital, elektromobil mit weniger Lärm. Ich habe die Vorstellung, dass wir überschaubar bleiben und als Stadt Neuss eine eigene Identität pflegen, als starker Standort für Wirtschaft und Arbeit, aber auch als Lebensraum. Dazu gehört ein schöner Bürgerpark, der einlädt zur Erholung, zu Freizeit und zum Sport und enge Wechselwirkungen mit einer lebendigen Neusser Innenstadt hat.