Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Kermani plädiert für die Verschiedenheit
Zur Auftaktveranstaltung, die in der Stadtbibliothek stattfand, kam der Autor selbst. Schließlich steht Navid Kermani im Mittelpunkt der Reihe „Neuss liest“. Er stellte nicht nur seinen neuen Roman vor.
NEUSS Navid Kermani (54) eröffnete das Lesefest „Neuss liest“vor 120 interessierten Zuhörern in der Stadtbibliothek Neuss. Er wurde mit zahlreichen renommierten Literaturund Kulturpreisen ausgezeichnet, 2015 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche. Kulturausschussvorsitzender Michael Ziege freute sich – in Vertretung des Bürgermeisters Reiner Breuer, der auch Schirmherr von „Neuss liest“ist –, einen derart „angesagten“Autor begrüßen zu können. Schließlich habe es mit Dieter Wellershoff und Martin Walser bereits berühmte Protagonisten beim Neusser Lesefest gegeben. Claudia Büchel, die Leiterin der Stadtbibliothek, machte dann zunächst mit dem Programm des 13. Lesefestivals bekannt und lud zugleich zur Teilnahme ein.
„Man schwebt zwischen Deutschland und Persien, zwischen Christentum und Islam, auch zwischen Poesie und Wissenschaft“, schrieb Johann Wolfgang von Goethe 1819 in seinem Alterswerk „West-östlicher Divan“. Dieser Zustand des Schwebens bezeichnet korrekt den Abend in der Stadtbibliothek. Denn der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani las aus seinem Roman (2022 erschienen) „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“.
Der Untertitel „Fragen nach Gott“bestimmte einen Abend zwischen Pietismus und Mystik, dem die Zuhörer gebannt folgten. Nicht unbeteiligt daran war Insa Wilke, Literaturkritikerin
bei der Süddeutschen Zeitung, die im Dialog mit dem Autor öfter provokante Fragen stellte: „Man erkennt deine Bücher sofort am roten Faden.“Navid Kermani antwortete; „Jedes Kunstwerk ist eine Mitteilung“, und gab sodann zu: „Es war eine Notwendigkeit, einen Dialog zu schreiben.“
Denn in dem aktuellen Buch erklärt ein Vater seiner Tochter die „Fragen nach Gott“. Auch das erinnerte an Goethe. Die „Wilhelm
Meisters Wanderjahre“gestaltete er weitgehend als Dialog zwischen Vater und Sohn, Dialog mit einem „Zwilling“, der zeitlich so fern, in Gedanken aber so nah ist. Prompt widmet der Autor sich in seinem Buch der Auseinandersetzung mit Goethe und seiner „Weltfrömmigkeit“. Es gilt, heißt es da, nicht nur den Nächsten zu fördern, sondern man muss die ganze Menschheit mitnehmen. „Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident!“Diese Aussage des
Koran öffnet Goethe, indem er „Allah“durch „Gott“ersetzt, für seine christlichen Leser.
„Das Endliche ist das Irdische in uns, die Einzigartigkeit eines jeden Menschen ist das Göttliche in uns!“sagte Kermani, und während Goethe mit der „Weltfrömmigkeit“alle Religionen vereinheitlichen will, plädiert Kermani für die Verschiedenheit: „Erst durch die Andersartigkeit entstehen lebendige Kulturen, ein Reichtum an Sprache,
Musik, Poesie.“
Am Vormittag hat der Autor in einer geschlossenen Veranstaltung für Schülerinnen des MarienbergGymnasiums gelesen. Dabei habe ihn die Ernsthaftigkeit und Genauigkeit der Fragen überrascht, „obwohl sie mir bei allen Schullesungen begegnen“. Denn die Schülerinnen stellten elementare Fragen, „die für uns Erwachsene leider fast selbstverständlich sind“.
Um zum realen Alltag zu kommen, las Navid Kermani zum Ende noch aus seinem afrikanischen Tagebuch „Vor der ewigen Ruhe“, das am Tage der „Neuss liest“-Eröffnung in „Die Zeit“erschien, und ein Manuskript aus seinem neuen Roman, bisher unveröffentlicht.
Zur Unterhaltung trug auch Lennart Schwarz bei, der auf dem harmonisch-perkussiven Instrument Hang passende Melodien spielte.