Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wo ist Olaf Scholz?
Er hat James Bond und Ed Sheeran unter Vertrag, doch der Chef einer der größten Agenturen für Doppelgänger findet keinen Kanzler.
MÜLHEIM Der Mann, der über Deutschlands Kanzler entscheidet, sitzt an einem Schreibtisch im Ruhrgebiet, und langsam weiß er auch nicht mehr weiter. Warum ist das denn nur so verdammt schwierig? Jochen Florstedt klickt einen Ordner mit Fotos an, „Politikerbewerber“steht darauf. 70 kleine Männerköpfe tauchen auf dem Bildschirm auf, sorgfältig sortiert in einer Liste.
Es könnten deutsche Touristen am Gardasee sein oder Bankangestellte; es ist die Art Gesichter, an die man sich später nur schwer erinnern kann. Die meisten haben eine Glatze, aber längst nicht alle. Und das ist auch schon das erste Problem. „Mein Gott“, sagt Jochen Florstedt, er springt von seinem Stuhl auf und vergräbt den Kopf in den Händen: „Wer hat denen bitteschön erzählt, dass sie aussehen wie Olaf Scholz?“
Florstedt, 72 Jahre alt, betreibt in Mülheim an der Ruhr eine der größten Doppelgänger-Agenturen Deutschlands. Er engagiert Menschen, die aussehen wie Promis, aber keine sind. Sie fahren zu Firmenfeiern oder treten in Satireshows auf, sie posieren für Fotos und imitieren das Original bis ins Detail. Etwa 400 gute Doubles sind in Europa unterwegs, sagt Florstedt. Mehr als 100 hat er exklusiv unter Vertrag. Die Auswahl reicht vom früheren US-Präsidenten Barack Obama über den Physiker Albert Einstein bis zu Popstar Ed Sheeran. Auch Trainer Jürgen Klopp und Schauspieler George Clooney sind dabei. Florstedts bekannteste Doppelgängerin ist Ursula Wanecki, die Kanzlerin aus dem Sauerland.
Zehn Jahre lang verkörperte sie Angela Merkel und wurde regelmäßig von der „Heute-Show“gebucht. Auch für Stefan Raab und Joko & Klaas trat sie vor die Kamera. In ihrer Heimat Attendorn sieht man sie auf der Straße häufig im roten Blazer und mit bunter Kette um den Hals. Florstedt sagt, die Illusion sei fast perfekt, das Double habe sich der echten Merkel mit der Zeit immer mehr genähert. Wenn sie still dasitze, erzählte Wanecki einmal, dann müsse sie manchmal aufpassen, mit den Händen nicht reflexartig die Raute zu formen. „Die Attendorner grüßen sie mittlerweile so, als wär‘s die echte“, sagt Florstedt. Hallo, Angie, hallo, Frau Merkel.
Doch Merkels Ära ist zu Ende. Am 8. Dezember trat sie nach 16 Jahren im Kanzleramt ab. Mit ihr verschwand auch Wanecki von der öffentlichen Bühne. Unterhaltungsshows hatten kein Interesse mehr, das Double gab noch einige Interviews, und dann war Schluss. Jetzt hat das Land einen neuen Kanzler. Doch wo ist der Doppelgänger, der so aussieht wie Olaf Scholz?
Seit fast einem Jahr sucht Florstedt jetzt schon nach ihm. Er hat die Stelle auf seiner Homepage ausgeschrieben und rief bei Fernsehsendern und Nachrichtenagenturen an: Ja, Scholz ist jetzt Kanzler, schön, aber ich brauche ein Double, kennt ihr denn niemanden? Doch es half nichts. „Null Komma gar nichts hab ich“, sagt Florstedt.
Der 72-Jährige hat so einige Theorien, warum es nicht klappt. Vielleicht ist Scholz nicht beliebt genug. Vielleicht traut sich niemand in die Öffentlichkeit. Oder vielleicht ist dieser Mann einfach unkopierbar: „Scholz sieht aus wie eine Million andere Menschen. Und genau das ist das Problem.“Wie also etwas imitieren, wo kaum eine Kante ist, an der man sich festhalten kann? Scholz, so sagt es Florstedt, sieht so gewöhnlich aus, dass jedes abweichende Detail sofort ins Auge fällt. Seit einigen Jahren kursiert im Internet die These, jeder Mensch habe im Schnitt sieben Doppelgänger auf der Welt. Wissenschaftlich belegt ist das nicht. Und selbst wenn: Florstedt findet ja nicht mal einen Scholz.
70 Bewerber meldeten sich, aber niemand war dabei, der wirklich aussah wie der Kanzler. Zu groß, zu klein, zu dick, manche hatten keine blauen Augen, andere nahezu überhaupt keine Ähnlichkeit mit Scholz. Sie bewarben sich mit Bart und Haaren. Florstedt ist kritisch, es geht ja um Scholz und nicht um H. P. Baxxter, den Scooter-Frontmann. 1,70 Meter, 67 Kilo, das sollte schon in etwa passen. „Ich will nicht irgendeinen Heini haben“, sagt Florstedt.
1998 gründete er die Agentur, zuvor arbeitete Florstedt selbst als Double. Bei einer Mottoparty verkleideten er und ein Freund sich als italienische Mafiosi. Sie klebten sich Koteletten an, zogen schwarze Anzüge über und managten zusammen die Kasse am Eingang, als plötzlich jemand zu Florstedt sagte: Du siehst ja genau so aus wie Jake Blues. Florstedt sagte der Name damals nichts. „Zu Hause schaute ich mir den Typen dann mal an, und tatsächlich sah der aus wie ich in meinem Kostüm.“Jake Blues war in der Kultband Blues Brothers eine von US-Sänger John Belushi verkörperte Kunstfigur.
Fortan tourte Florstedt durch Europa, zusammen mit seinem Freund Hubert Apeltrath, sie mimten die Blues Brothers im Madame Tussauds in Amsterdam und in einem Casino in Slowenien. Florstedt erkannte schnell den Wert solcher Doubles und Auftritte. Plötzlich standen Fremde für ein Foto oder Autogramm mit ihm an. „Die Leute liebten uns“, sagt Florstedt.
Zurück in Deutschland, rekrutierte er immer mehr Doppelgänger und vermarktete sie an SparkassenEvents und Weihnachtsfeiern. Heute, sagt er, ist er mit vielen von ihnen befreundet, einige wohnen in der Nähe. James Bond in Duisburg, Chuck Norris in Essen, Paris Hilton in Düsseldorf. Davon leben können nur wenige, für die meisten bleibt die Show ein Hobby. Der falsche Daniel Craig ist eigentlich Elektriker, und Merkel bearbeitet Steuerbescheide. Zuletzt hat Florstedt das Double von Wladimir Putin rausgeworfen. Die Imitation eines Kriegsverbrechers will er nicht, sagt er.
An seinem Computer bewegt Florstedt jeden Kandidaten neben ein Foto des echten Kanzlers. „Ganz wichtig sind die Augen“, sagt Florstedt und malt mit seinen Fingern ein großes V in die Luft, die ScholzAugenbrauen. Dann kommt der nackte Kopf, er muss hinten leicht nach oben gehen. Und natürlich darf das Grinsen nicht fehlen, diese zugekniffenen Augen, bei denen man nie richtig weiß, ob sie gerade Arroganz oder Charme ausstrahlen.
Wenn er doch nur einen hätte, einen einzigen guten Kandidaten, einen richtigen Typen, sagt Florstedt, dann könnte er jetzt loslegen. Die Zeit rast ihm davon, bereits im November klingelte das Telefon, Merkel war noch gar nicht weg, da fragten die Leute: Hast du ihn? Und wie sieht er aus? In der echten Welt ist es ja so: Es gibt immer einen Kanzler, eine Kanzlerin. In Florstedts Welt aber herrscht nun Anarchie. Denn auch andere Mitglieder des Kabinetts fehlen. Für Außenministerin Annalena Baerbock meldete sich nur eine 22-Jährige, bei Finanzminister Christian Lindner gab es überhaupt keine Bewerber.
Seit seinem Scholz-Problem beobachtet Florstedt ganz genau, wie die Männer aussehen, die ihm auf der Straße entgegenkommen. „Wenn da der Richtige dabei ist, dann schnapp ich mir den.“Das hat schon einmal geklappt, mit Jean-Luc Picard, dem weisen Kapitän von Raumschiff „Enterprise“. Florstedt war im Urlaub, 2018, eine Safari im afrikanischen Nationalpark Serengeti. Beim Essen sah er einen Mann mit Glatze, drei Tische weiter, er setzte sich zu ihm und fragte: Hat Ihnen noch nie jemand gesagt, dass Sie aussehen wie Captain Picard? Doch, doch, im Freundeskreis sei das ein Running Gag. Ab da trafen sich die beiden auf der Safari immer wieder. Als Florstedt nach Hause flog, hatte er ein neues Double. Patrick Stewart in seiner Rolle als Captain Picard. Und zufällig wohnte der Doppelgänger in Düsseldorf.
Aber was, wenn sich für Scholz niemand findet? Wenn es einfach nur einen Kanzler gibt, Scholz so normal und einzigartig zugleich ist? Dann, sagt Florstedt, geht er die 70 Köpfe der Bewerber noch mal durch. Und dann noch mal. Denn manchmal kommt es vor, dass sich die Doubles zu den Originalen erst noch hinbewegen müssen. So war es damals auch mit Merkel und ihrer Doppelgängerin Warnecki. 2005 hatte Florstedt sie zunächst abgelehnt.
„Scholz sieht aus wie eine Million andere Menschen. Und genau das ist das Problem“Jochen Florstedt Doppelgänger-Agentur
Der falsche Daniel Craig ist eigentlich Elektriker, und Merkel bearbeitet Steuerbescheide