Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wenn Plastikfiguren die Welt erklären
Komplizierte Bücher vereinfachen – das schafft Michael Sommer auf besondere Weise. In seinen Youtube-Videos spielen Playmobil-Figuren die Hauptrollen. Der Medienpädagoge kritisiert den engen Horizont deutscher Lehrpläne.
DÜSSELDORF Mit seinen Videos hat er schon vielen Schülern durch die Schulzeit geholfen: Michael Sommer (45) betreibt seit sieben Jahren den Youtube-Kanal „Sommers Weltliteratur to go“. Zwischen 10.000 und 20.000 Menschen klicken täglich auf seine Videos. An Tagen vor dem schriftlichen Abitur liegen die Zugriffszahlen auch mal im sechsstelligen Bereich.
Mit seiner Sammlung von 1500 Playmobil-Figuren spielt er wie im Marionettentheater literarische Werke in zehnminütigen Videos nach. Die sind nicht nur unterhaltsam, sondern auch lehrreich und so gut, dass er 2018 mit dem Grimme Online Award in der Kategorie „Kultur und Unterhaltung“ausgezeichnet wurde. Vor allem für seine Hauptzielgruppe der Schüler „verplaymobilisiert“er Pflichtlektüren. Sein beliebtestes Video ist Goethes „Faust“, das bisher 1,7 Millionen Mal geklickt wurde.
Das erste Video veröffentlichte er 2013. Schon vorher wurden in der Harald-Schmidt-Show Geschichten mit Playmobil dargestellt. Michael Sommer übernahm diese Idee, als er nach seinem Studium der englischen und deutschen Literatur am Ulmer Theater arbeitete. Als Dramaturg behandelte er zu dieser Zeit das Historiendrama „Dantons Tod“. Da der Regisseur die Handlung aus der Inszenierung herausstrich, filmte er für die Zuschauer eine Inhaltsangabe mithilfe von Playmobil-Figuren und stellte es auf Youtube. „Ich war sehr erstaunt, als sich doch viele Leute das angeschaut haben“, erinnert sich Sommer: „Da habe ich gemerkt, dass es einen Bedarf an lustigen, aber kurzen Inhaltsangaben gibt.“
Zwei Jahre später beginnt Sommer, wöchentlich eine mit Playmobil-Figuren dargestellte Inhaltsangabe als „To-go-Version“hochzuladen. So haben sich über 450 Videos zu literarischen Werken auf seinem Kanal angesammelt. Mit der Produktion eines Videos ist er rund zwei Tage beschäftigt, dazu kommt natürlich noch das Lesen der Lektüre.
Komplett von den Einnahmen aus Youtube kann Sommer aber nicht leben. Er arbeitet halbtags als Lehrer für Literatur- und Medienpädagogik an einer Berufsfachschule für Erzieher in München. Außerdem inszeniert er regelmäßig Theaterstücke und hält Vorträge vor Lehrkräften.
Immer wieder kontaktieren ihn Lehrer, die mit ihren Schülern auf dieselbe Art und Weise Kurzvideos produzieren. Eine Auswahl dieser Videos möchte Sommer ab Oktober auf seinem Hauptkanal veröffentlichen. „Ich will den Kanal für andere Menschen öffnen, um noch mehr Stimmen zu Wort kommen zu lassen, um noch mehr Literatur abbilden zu können und um einen Austausch zu fördern“, erklärt Sommer die Neuerung.
Auch die intensive und spielerische Auseinandersetzung mit klassischer Literatur will er unterstützen. Generell möchte er mit seinen Videos komplizierte Geschichten leichter zugänglich machen, sodass sie in Erinnerung bleiben. Schüler können so einen besseren Bezug zum Inhalt herstellen und animiert werden, zum Buch zu greifen und zu lesen.
Denn klar ist: Sommers Videos ersetzen keine Lektüre. Er ist der Überzeugung, dass sich Schüler mit schwierigen Texten auseinandersetzen sollten, da Lesen und Schreiben wichtige Techniken sind, um sich sinnvoll zu verständigen – nicht zuletzt, um in der Wissenschaft sachlich argumentieren zu können.
Welche literarischen Werke Sommer verfilmt, entscheiden hauptsächlich seine Zuschauer, die Vorschläge geben und abstimmen können. Hinzu kommen Videos mit seinem Kooperationspartner Reclam. Außerdem setzt Sommer eigene Schwerpunkte, wie momentan ausschließlich Werke von Frauen zu inszenieren, die bisher nur einen Anteil von 18 Prozent auf seinem Kanal ausmachen. Diese Unterrepräsentanz sei auch der Schullektüre geschuldet, die eher männliche Schriftsteller behandle. „Denn leider ist die Vergangenheit sehr männlich geprägt, und Frauen wurden in Literaturgeschichte, Unis und Lehrbüchern marginalisiert“, kritisiert Sommer.
Auch den Anteil an nicht-westlicher Literatur möchte Michael Sommer in seinem Programm erhöhen. „Mein Kanal heißt zwar vollmundig ‚Weltliteratur to go‘, aber hauptsächlich ist das deutsche Literatur“, sagt er. Auch das liege an den deutschen Lehrplänen, die sich zu wenig mit Werken anderer Kontinente befassten. Michael Sommer muss also noch viele Bücher auf seine Weise aufgreifen, um seinen Zuschauern die vielfältige Welt der Literatur zeigen zu können.