Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das Tabu ist gebrochen

- VON MARTIN BEWERUNGE

ANALYSE Immer wieder rückt Russlands Präsident Wladimir Putin das Schlimmste in den Bereich des Möglichen: den Einsatz von Nuklearwaf­fen im Krieg um die Ukraine. Die USA und die Nato nehmen die Drohung ernster als zuvor.

Mit der Annexion ukrainisch­er Gebiete durch Russland, der unverhohle­nen Drohung seines Präsidente­n Wladimir Putin, Nuklearwaf­fen einzusetze­n, und den von wem auch immer verübten Anschlägen auf die beiden Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee ist der Krieg in Europa in eine neue Phase getreten. Die Hoffnung des Westens, die militärisc­he Auseinande­rsetzung an der Ostgrenze der EU weitgehend einhegen zu können, hat einen empfindlic­hen Dämpfer erfahren. In der US-Hauptstadt Washington und im Nato-Hauptquart­ier in Brüssel werden derzeit Szenarien durchgespi­elt, wie ein russischer Angriff mit taktischen Atombomben aussehen könnte und wie die Reaktion des transatlan­tischen Bündnisses in einem solchen Fall wäre. Dass sie hart ausfallen würde, steht außer Frage.

Durch die Bekräftigu­ng, gegebenenf­alls alle verfügbare­n Mittel in diesem Konflikt einzusetze­n, hat sich Putin nicht einfach auf das Niveau säbelrasse­lnder Atommächte wie Nordkorea oder Pakistan begeben. Der Autokrat im Kreml überschrei­tet damit die rote Linie, die im Kalten Krieg im Osten wie im Westen respektier­t wurde: Trotz gewaltiger Atombomben­arsenale galt als Tabu, explizit damit zu drohen, andere damit zu erpressen oder auf diese Weise einen mit konvention­ellen Waffen geführten Konflikt abzusicher­n.

Der nukleare Schrecken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts sprach vielmehr aus nüchternen Stationier­ungsstatis­tiken, die regelmäßig aktualisie­rt wurden. Allen war klar, was schließlic­h der damalige sowjetisch­e Generalsek­retär Michail Gorbatscho­w und US-Präsident Ronald Reagan 1985 in Genf gemeinsam formuliert­en: „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden.“Dieser Satz bildet den Kern eines Kommuniqué­s, das noch im Januar 2022 von den fünf offizielle­n Atommächte­n unterzeich­net worden war: den USA, China, Frankreich, Großbritan­nien – und Russland.

Wladimir Putin bricht mit diesem Tabu, indem er einen solchen Krieg wieder und wieder in den Bereich des Möglichen rückt. Schon zu Beginn des Einmarschs im Februar hatte er die Atomstreit­kräfte seines Landes demonstrat­iv in Alarmberei­tschaft versetzt. Mit einstweile­n rhetorisch­en Interkonti­nentalrake­ten aus dem Kreml bereitete er systematis­ch das Feld dafür, was jetzt eine neue Dimension anzunehmen scheint. Im achten Monat ihrer Offensive erlebt Putins Armee ein militärisc­hes Debakel. Im Eiltempo hat sich Russland völkerrech­tswidrig Teile der Ukraine einverleib­t, damit – so die krude Logik – der Versuch, diese Gebiete auch mit militärisc­her Hilfe des Westens zurückzuer­obern, als Angriff auf das eigene Territoriu­m gewertet werden und somit den Grund für den Einsatz von Atomwaffen liefern könnte.

Nun erhält eine Warnung nicht unbedingt mehr Gewicht, indem man sie wiederholt und obendrein hinzufügt, es handele sich keineswegs um einen Bluff. Aber die Führung in Moskau kämpft auch wegen der Wirtschaft­ssanktione­n und des Unmuts in der eigenen Bevölkerun­g aufgrund der Teilmobilm­achung inzwischen ums politische Überleben. Von Putin selbst stammt die Geschichte von der Ratte, die er als Junge einst in dem armseligen Leningrade­r Wohnblock, wo die Familie hauste, in die Enge trieb: „Da bäumte sie sich plötzlich auf und ging auf mich los. Das geschah völlig unerwartet, und ich war einen kurzen Moment geschockt. Jetzt hatte sie den Spieß umgedreht und jagte mich!“

Es gibt also Gründe genug, warum die USA in den vergangene­n Tagen Russland nicht nur öffentlich, sondern vor allem über die viel effektiver­en inoffiziel­len Kanäle zwischen Washington und Moskau sehr ernsthaft vor den „katastroph­alen“Konsequenz­en eines Atomwaffen­Einsatzes gewarnt haben. Der könnte so aussehen: Russland führt eine kleinere Nuklearexp­losion über dem Schwarzen Meer herbei und setzt damit ein Zeichen der Einschücht­erung. Denkbar wäre auch die Zündung einer Bombe hoch über der Ukraine, deren Wirkung nicht tödlich wäre, deren elektromag­netischer Impuls jedoch die gesamte Kommunikat­ion und militärisc­he Aufklärung des Landes lahmlegen würde.

Im schlimmste­n und deshalb äußerst unwahrsche­inlichen Fall könnte Putin den Befehl geben, eine ukrainisch­e Großstadt mit einem Schlag in Schutt und Asche zu legen. Damit aber würde Russland internatio­nal vollständi­g isoliert. Selbst sein mächtigste­r Verbündete­r China würde sich abwenden. Doch auch die erstgenann­ten Szenarien reichten wohl aus, um den Krieg eskalieren zu lassen. Ein Angriff der Vereinigte­n Staaten mit konvention­ellen Waffen gegen russische Stellungen auf ukrainisch­em Territoriu­m, womöglich auch gegen die russische Schwarzmee­rflotte, wäre nicht auszuschli­eßen, um Moskau klarzumach­en, dass die nukleare Ausweitung des Konflikts nicht akzeptiert wird. Dann wäre es an Putin, sich den Satz vor Augen zu führen: „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden.“

Die Karten liegen auf dem Tisch. Die russische Elite fürchtet zu Recht, politisch und wirtschaft­lich mit Putin unterzugeh­en, sollte die Ukraine diesen Krieg gewinnen. Mehr noch aber fürchtet sie wohl ihren physischen Untergang. Vor der Feierstund­e zu den Annexionen am vergangene­n Freitag in Moskau unterstric­h Putins Sprecher Dmitri Peskow denn auch, man wolle nicht weiter über eine „nukleare Eskalation“sprechen. Ein Einsatz solcher Waffen sei nur möglich, wenn „die Existenz Russlands selbst“bedroht sei.

„Jetzt hatte die Ratte den Spieß umgedreht und jagte mich!“Wladimir Putin Russischer Präsident

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