Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die russische Front bröckelt weiter

Sowohl im Süden als auch im Nordosten des Landes sind die Ukrainer auf dem Vormarsch. Moskau hofft nun auf General Winter.

- VON ANDRÉ BALLIN UND ANDREAS STEIN

MOSKAU/KIEW (dpa) Rückzug auf breiter Front: Die russischen Truppen mussten im Süden der Ukraine am Dnipro ein riesiges Gebiet räumen, nachdem zuvor ukrainisch­e Truppen entlang des Flusses gut 30 Kilometer hinter die russischen Linien vorgedrung­en waren. Die russischen Einheiten bedrohten dort monatelang die Großstadt Krywyj Rih, den Geburtsort von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Doch durch den schnellen Vorstoß der Ukrainer waren sie auf einmal selbst in Gefahr, eingekesse­lt zu werden.

Nach dem eiligen Rückzug verläuft die Front nun keine 50 Kilometer mehr von der strategisc­h wichtigen Stadt Nowa Kachowka am Südende des Dnipro-Stausees entfernt. Auch der Druck auf die Gebietshau­ptstadt Cherson nimmt weiter zu, weil nun die ukrainisch­en Truppen nicht nur von Westen, sondern auch von Norden her auf den Schwarzmee­rhafen zumarschie­ren.

Russische Militärblo­gger sprechen von einer „tiefen operativen Krise“und ziehen Parallelen zur Niederlage der eigenen Armee im Gebiet Charkiw im Nordosten der Ukraine. Dort durchbrach­en ukrainisch­e Truppen Anfang September ebenfalls durch schnelle Manöver die Front. Sie drangen tief in den russischen Rückraum ein und zwangen somit Moskau zu einem schmählich­en Rückzug.

Russlands Problem: Auch an diesem Frontabsch­nitt gelingt es nicht, die Lage zu stabilisie­ren. Das Vorhaben der russischen Armee, sich nach dem weitgehend­en Abzug aus dem Gebiet Charkiw entlang der Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez festzusetz­en, gilt als komplett gescheiter­t. Nach der Rückerober­ung von Kupjansk und Lyman im Donezker Gebiet kontrollie­ren die ukrainisch­en Streitkräf­te das östliche Ufer der Flüsse bald vollständi­g.

Als neue Ziele des ukrainisch­en Vorgehens sind bereits die Städte Swatowe und Kreminna im Visier. Die liegen im von Moskau eigentlich bereits komplett als erobert gemeldeten Gebiet Luhansk. Swatowe gilt als Verkehrskn­oten, der für die Versorgung der russischen Truppen in der Region wichtig ist.

Das Ende des ukrainisch­en Vormarsche­s scheint dabei weniger von den Entscheidu­ngen der russischen Armeeführu­ng als vom Wetter, den Reserven, dem Nachschub und dem Siegeswill­en der ukrainisch­en Truppen abzuhängen. Insbesonde­re die herbstlich­en Wetterverh­ältnisse mit zunehmende­m Regen und damit der berüchtigt­en Schlammper­iode

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Mar könnten die ukrainisch­e Offensive zumindest verlangsam­en.

Die russische Armee hingegen hat dem Vormarsch derzeit aus zwei Gründen wenig entgegenzu­setzen: Ihr mangelt es an Personal und an Kommunikat­ion. Über mehr als 1000 Kilometer erstreckt sich die Front. Für die bisher dort eingesetzt­e profession­elle Armee bedeutet dies selbst mit den Separatist­enmilizen und Söldnern etwa der WagnerGrup­pe eine Überdehnun­g. Die eingesetzt­en Soldaten reichen einfach nicht aus, um überall präsent zu sein. Kiew hingegen hatte laut Präsident Selenskyj nach mehreren Mobilisier­ungswellen bereits Ende Mai 700.000 Mann unter Waffen.

Das Ungleichge­wicht nutzen die Ukrainer. Sie haben mit Luft- und Bodenaufkl­ärung Lücken gefunden und attackiere­n sie geschickt. Statt mit großer Artillerie­vorbereitu­ng und Frontalang­riffen vorzustoße­n, testen die mit Geländewag­en ausgerüste­ten hochmobile­n Einheiten Schwachste­llen der dünnen russischen Frontlinie aus. In kleinen Gruppen brechen sie dann durch, um plötzlich im Rücken der russischen Positionen aufzutauch­en. Begünstigt wird dieses Vorgehen durch moderne Satelliten­aufklärung.

Stolz zeigte die Gegenpropa­ganda der ukrainisch­en Streitkräf­te in einem Video ein „interaktiv­es Display“mit Livedaten westlicher Satelliten. „Während die Besatzer sowjetisch­e Autokarten nutzen, sieht die ukrainisch­e Armee jede Position der Russen online“, kommentier­te das Kommunikat­ionszentru­m das Video süffisant. Bei ihren Gegenangri­ffen wollen die ukrainisch­en Truppen regelmäßig von den russischen Soldaten zurückgela­ssene papierene Straßenkar­ten teils aus den 70er-Jahren erbeutet haben.

Tatsächlic­h wirkt Moskaus Kriegsführ­ung veraltet. Befehlsket­ten sind lang und starr. Russische Militärbeo­bachter beklagen, dass es viel zu lange dauert, ehe einzelne Truppentei­le so reagieren. Die Artillerie schieße oft erst, wenn die Ukrainer schon weg seien, lautet ihre Kritik. Reserven würden herangefüh­rt, wenn die Schlacht geschlagen sei.

Nach Expertenei­nschätzung reicht die Zahl der Reserviste­n nicht aus, um das Kräfteverh­ältnis völlig umzukehren. Allerdings kann Moskau damit die Lücken stopfen. Und dann setzt die russische Führung auf einen bewährten Verbündete­n – General Winter. An der Front soll er die Ukrainer stoppen. In der Zeit könnte Russland neue Kräfte und Reserviste­n sammeln. Auch die russische Rüstungswi­rtschaft, die inzwischen mobilisier­t wurde, soll bis dahin ihren Ausstoß erhöhen.

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FOTO: KOSTIANTYN LIBEROV/AP Ukrainisch­e Truppen Ende September im Gefecht bei Kupjansk im Gebiet Charkiw.
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BEHÖRDEN OSM, ISW, USS. GRAFIK: FERL

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