Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die russische Front bröckelt weiter
Sowohl im Süden als auch im Nordosten des Landes sind die Ukrainer auf dem Vormarsch. Moskau hofft nun auf General Winter.
MOSKAU/KIEW (dpa) Rückzug auf breiter Front: Die russischen Truppen mussten im Süden der Ukraine am Dnipro ein riesiges Gebiet räumen, nachdem zuvor ukrainische Truppen entlang des Flusses gut 30 Kilometer hinter die russischen Linien vorgedrungen waren. Die russischen Einheiten bedrohten dort monatelang die Großstadt Krywyj Rih, den Geburtsort von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Doch durch den schnellen Vorstoß der Ukrainer waren sie auf einmal selbst in Gefahr, eingekesselt zu werden.
Nach dem eiligen Rückzug verläuft die Front nun keine 50 Kilometer mehr von der strategisch wichtigen Stadt Nowa Kachowka am Südende des Dnipro-Stausees entfernt. Auch der Druck auf die Gebietshauptstadt Cherson nimmt weiter zu, weil nun die ukrainischen Truppen nicht nur von Westen, sondern auch von Norden her auf den Schwarzmeerhafen zumarschieren.
Russische Militärblogger sprechen von einer „tiefen operativen Krise“und ziehen Parallelen zur Niederlage der eigenen Armee im Gebiet Charkiw im Nordosten der Ukraine. Dort durchbrachen ukrainische Truppen Anfang September ebenfalls durch schnelle Manöver die Front. Sie drangen tief in den russischen Rückraum ein und zwangen somit Moskau zu einem schmählichen Rückzug.
Russlands Problem: Auch an diesem Frontabschnitt gelingt es nicht, die Lage zu stabilisieren. Das Vorhaben der russischen Armee, sich nach dem weitgehenden Abzug aus dem Gebiet Charkiw entlang der Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez festzusetzen, gilt als komplett gescheitert. Nach der Rückeroberung von Kupjansk und Lyman im Donezker Gebiet kontrollieren die ukrainischen Streitkräfte das östliche Ufer der Flüsse bald vollständig.
Als neue Ziele des ukrainischen Vorgehens sind bereits die Städte Swatowe und Kreminna im Visier. Die liegen im von Moskau eigentlich bereits komplett als erobert gemeldeten Gebiet Luhansk. Swatowe gilt als Verkehrsknoten, der für die Versorgung der russischen Truppen in der Region wichtig ist.
Das Ende des ukrainischen Vormarsches scheint dabei weniger von den Entscheidungen der russischen Armeeführung als vom Wetter, den Reserven, dem Nachschub und dem Siegeswillen der ukrainischen Truppen abzuhängen. Insbesondere die herbstlichen Wetterverhältnisse mit zunehmendem Regen und damit der berüchtigten Schlammperiode
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Mar könnten die ukrainische Offensive zumindest verlangsamen.
Die russische Armee hingegen hat dem Vormarsch derzeit aus zwei Gründen wenig entgegenzusetzen: Ihr mangelt es an Personal und an Kommunikation. Über mehr als 1000 Kilometer erstreckt sich die Front. Für die bisher dort eingesetzte professionelle Armee bedeutet dies selbst mit den Separatistenmilizen und Söldnern etwa der WagnerGruppe eine Überdehnung. Die eingesetzten Soldaten reichen einfach nicht aus, um überall präsent zu sein. Kiew hingegen hatte laut Präsident Selenskyj nach mehreren Mobilisierungswellen bereits Ende Mai 700.000 Mann unter Waffen.
Das Ungleichgewicht nutzen die Ukrainer. Sie haben mit Luft- und Bodenaufklärung Lücken gefunden und attackieren sie geschickt. Statt mit großer Artillerievorbereitung und Frontalangriffen vorzustoßen, testen die mit Geländewagen ausgerüsteten hochmobilen Einheiten Schwachstellen der dünnen russischen Frontlinie aus. In kleinen Gruppen brechen sie dann durch, um plötzlich im Rücken der russischen Positionen aufzutauchen. Begünstigt wird dieses Vorgehen durch moderne Satellitenaufklärung.
Stolz zeigte die Gegenpropaganda der ukrainischen Streitkräfte in einem Video ein „interaktives Display“mit Livedaten westlicher Satelliten. „Während die Besatzer sowjetische Autokarten nutzen, sieht die ukrainische Armee jede Position der Russen online“, kommentierte das Kommunikationszentrum das Video süffisant. Bei ihren Gegenangriffen wollen die ukrainischen Truppen regelmäßig von den russischen Soldaten zurückgelassene papierene Straßenkarten teils aus den 70er-Jahren erbeutet haben.
Tatsächlich wirkt Moskaus Kriegsführung veraltet. Befehlsketten sind lang und starr. Russische Militärbeobachter beklagen, dass es viel zu lange dauert, ehe einzelne Truppenteile so reagieren. Die Artillerie schieße oft erst, wenn die Ukrainer schon weg seien, lautet ihre Kritik. Reserven würden herangeführt, wenn die Schlacht geschlagen sei.
Nach Experteneinschätzung reicht die Zahl der Reservisten nicht aus, um das Kräfteverhältnis völlig umzukehren. Allerdings kann Moskau damit die Lücken stopfen. Und dann setzt die russische Führung auf einen bewährten Verbündeten – General Winter. An der Front soll er die Ukrainer stoppen. In der Zeit könnte Russland neue Kräfte und Reservisten sammeln. Auch die russische Rüstungswirtschaft, die inzwischen mobilisiert wurde, soll bis dahin ihren Ausstoß erhöhen.