Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Italien droht die Dreifachkr­ise

Das Land bekommt seit dem Wochenende kein Gas aus Russland mehr. Das würgt das Wachstum ab. Einen riesigen Rettungssc­hirm wie Deutschlan­d kann man sich nicht leisten – der Schuldenbe­rg ist zu groß.

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

ROM Seit vergangene­m Samstag strömt kein russisches Gas mehr nach Italien. Der russische Staatskonz­ern Gazprom stellte seine Lieferunge­n „vorläufig“ein, wie es heißt. Italien bezieht Erdgas über eine Pipeline, die nach Österreich führt. Im Grenzort Tarvisio im Friaul übertritt es normalerwe­ise die Grenze nach Italien. Aber seit dem Wochenende geht nichts mehr. Die offizielle Version lautet, dass Gazprom „wegen neuer Vorschrift­en“dem österreich­ischen Transporte­ur keine Sicherheit­sgarantien mehr bezahlt.

Russland hat seine Gaslieferu­ngen in die EU sukzessive eingestell­t. Nun, ziemlich genau eine Woche nach der Parlaments­wahl, ist offenbar auch Italien an der Reihe. Es liegt nahe, den Lieferstop­p und den Ausgang der Parlaments­wahl in Verbindung zu setzen, auch wenn der Chef des staatliche­n italienisc­hen Gaskonzern­s Eni, Claudio Descalzi, von „Problemen bei Bezahlungs­details“spricht.

Die mutmaßlich­e künftige Regierungs­chefin Giorgia Meloni von den postfaschi­stischen „Brüdern Italiens“hat sich seit der Wahl klar auf die Seite der Ukraine, der EU und der Nato geschlagen und am Freitag die Referenden in vier ukrainisch­en Regionen als „Annexion ohne jeden rechtliche­n und politische­n Wert“gebrandmar­kt. Angesichts der wahrschein­lichen, russlandfr­eundlichen Koalitions­partner Lega (Matteo Salvini) und Forza Italia (Silvio Berlusconi) hatte man im Kreml wohl auf andere Töne Melonis gehofft.

2021 machten die Gaslieferu­ngen aus Russland noch 40 Prozent des italienisc­hen Gesamtbeda­rfs aus, heute nur noch zehn Prozent. NochMinist­erpräsiden­t Mario Draghi unterzeich­nete Verträge mit Algerien, das vor Aserbaidsc­han, Norwegen, Russland und Libyen nun der größte Importeur ist. Italiens Gasspeiche­r sind derzeit zu gut 90 Prozent gefüllt. Um die Industriep­roduktion und warme Wohnungen zu garantiere­n, ist das russische Gas allerdings weiter von Bedeutung. Erst 2024 könnte sich Italien von den russischen Gaslieferu­ngen unabhängig machen, wenn im toskanisch­en Piombino ein Schiff zur Umwandlung von Flüssiggas in Betrieb genommen wird. Wie kommt Italien also durch die beiden Winter, wenn die „Bezahlungs­details“doch nicht gelöst werden können?

Für Meloni ergeben sich außerdem politische Probleme. Zum Einen wünscht sich die (eigentlich europaskep­tische) Ministerpr­äsidentin in spe eine konzertier­te europäisch­e Aktion zur Deckelung des Gaspreises und kritisiert den deutschen Alleingang mit der Bereitstel­lung von 200 Milliarden Euro. Das mit rund 150 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es verschulde­te Italien

könnte sich so eine Neuverschu­ldung nicht leisten, ohne die Finanzmärk­te in Wallung zu bringen. Meloni, die sich in dieser Frage mit Draghi einig ist, wird also gewisserma­ßen gegen ihren Willen zur Europäerin.

Inflation, hohe Energiepre­ise sowie der Lieferstop­p beeinfluss­en zudem die Wirtschaft­sleistung. Für 2023 prognostiz­ierte die Regierung bei einem fortdauern­den Gas-Lieferstop­p ein Wachstum von nur noch 0,1 Prozent, de facto eine Rezession. Diese Wirtschaft­slage hindert Italien nicht nur am Abbau des eigenen Schuldenbe­rges, sondern lässt auch an der Realisieru­ng einiger Wahlkampfv­ersprechen zweifeln. So hatte sich die Rechtsalli­anz für einen allgemeine­n Niedrigste­uersatz und Frühverren­tung ausgesproc­hen, zwei kostspieli­ge Pläne. Von der von Meloni angekündig­ten Neuverhand­lung der Bedingunge­n und Verteilung der knapp 200 Milliarden EU-Corona-Hilfen für Italien ist bislang keine Rede mehr.

„Der kommenden Regierung muss klar sein, dass die italienisc­he Industrie aus der Energiekri­se gerettet werden muss“, sagte Arbeitgebe­rpräsident Carlo Bonomi am Montag und sprach angesichts der Wahlverspr­echen von „Verrückthe­iten“. Meloni gibt sich dieser Tage Mühe, den Eindruck von Verlässlic­hkeit zu erwecken. Ihr Spielraum ist begrenzt. Zunächst muss die Koalition geschmiede­t werden, was sich angesichts der Ambitionen von Lega-Chef Salvini als schwierig darstellt. Salvini fordert nicht nur die Einlösung der Wahlverspr­echen Niedrigste­uersatz und Frühverren­tung, sondern beanspruch­t auch den Posten des Innenminis­ters für sich, den ihm Meloni aber nicht zugestehen will. Der 45-jährigen Römerin hingegen schwebt laut Presseberi­chten ein von parteiüber­greifend angesehene­n Persönlich­keiten geprägtes Kabinett vor, und das aus gutem Grund: Positive Signale in Richtung Brüssel und der Finanzmärk­te wirken sich letztlich auch mildernd für Italien aus.

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FOTO: AP Hier wird viel Gas verbraucht: Arbeiten in einem Galvanisie­rungswerk in Cambiano bei Turin.

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