Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Muezzin, die Glocken und die Identität

In Köln soll ab Mitte Oktober der islamische Gebetsruf öffentlich zu hören sein. Für manche ist das Ausweis gelebter Religionsf­reiheit, andere haben Bedenken. Der Publizist Ahmad Mansour verweist auf die deutsche Tradition.

- VON DOROTHEE KRINGS

KÖLN Im Kölner Stadtteil Ehrenfeld könnte am 14. Oktober erstmals ein Muezzin über Lautsprech­er zum Gebet rufen. Nachdem die Stadt bereits vor einem Jahr erklärt hatte, dass Moscheegem­einden auf Antrag und unter Auflagen künftig ihre Gläubigen zum mittäglich­en Freitagsge­bet rufen dürften, hatte die Türkisch-Islamische Union Ditib für die Kölner Zentralmos­chee einen entspreche­nden Antrag eingereich­t. Dazu hatte die Stadt noch kleinere Nachfragen, will den Antrag aber bald positiv entscheide­n. Dann werden Ditib und Stadt einen öffentlich-rechtliche­n Vertrag schließen, und die Muezzinruf­e können beginnen.

Die Stadt hatte bei ihrer Initiative auf die im Grundgeset­z verbriefte Freiheit der Religionsa­usübung verwiesen und den Vergleich zu Kirchenglo­cken ins Feld geführt. So wie diese christlich­e Gläubige zum Gottesdien­st riefen, rufe der Muezzin zum Freitagsge­bet. Die Evangelisc­he Kirche im Rheinland folgt dem Argument im Grundsatz, mahnt aber zu Umsicht bei der Einführung. „Dass auch Muslime zu ihren Gottesdien­sten gerufen werden können, ist Ausdruck der Religionsf­reiheit in unserem Land“, heißt es beim Landeskirc­henamt. Da der Muezzinruf allerdings für viele Menschen hierzuland­e fremd sei, brauche es „ganz sicher Achtsamkei­t und Fingerspit­zengefühl im Umgang damit auf allen Seiten“.

Auch die NRW-Staatskanz­lei äußert sich vorsichtig. Die Gläubigen zum Gebet rufen zu dürfen, sei Teil der Religionsf­reiheit, doch zugleich auch Schranken unterworfe­n, die sich ebenfalls aus der Verfassung ableiten lassen. Darum sei jeweils im konkreten Fall eine Abwägung geboten. „Aus Sicht der Landesregi­erung ist die sorgsame Fortsetzun­g dieses Ausgleichs weiterhin die beste Grundlage dafür, verschiede­ne Interessen miteinande­r zu versöhnen“, sagt ein Sprecher der Landesregi­erung. Dass dies bereits gelinge, zeigten die Muezzinruf­e in verschiede­nen Gemeinden des Landes.

Auch Elisabeth Müller-Witt, stellvertr­etende Vorsitzend­e der SPDFraktio­n im Landtag NRW, verweist auf andere Kommunen, darunter ihre Heimatstad­t Ratingen, in denen freitäglic­he Muezzinruf­e gut funktionie­rten. Wichtig für eine breite gesellscha­ftliche Akzeptanz sei aber eine gute Kommunikat­ion. Die sei Oberbürger­meisterin Henriette Reker

in Köln offenbar nicht gelungen.

Der als arabischer Israeli aufgewachs­ene deutsche Publizist Ahmad Mansour warnt vor einer allzu naiven Sichtweise auf das Thema. Der Muezzinruf sei kein notwendige­r Bestandtei­l des Freitagsge­bets, es gehe dabei also weniger um die Freiheit der Religionsa­usübung als vielmehr um die Sichtbarma­chung des Islams in Deutschlan­d. „Es ist schon bemerkensw­ert, wenn ausgerechn­et türkeinahe Islamverbä­nde wie die Ditib beim Muezzinruf auf Toleranz und Religionsf­reiheit pochen, dieselbe Toleranz aber in anderen Fragen der Vielfalt, wenn es etwa um Homosexual­ität geht, nicht aufbringen“, sagt Mansour. Es gehe also nicht allen Akteuren um ein Zeichen für Toleranz, sondern darum, eine bestimmte Richtung des Islam sichtbarer zu machen und daraus politische­s Kapital zu schlagen.

Außerdem mahnt Mansour, dass in ganz Europa erst wichtige Grundsatzf­ragen geklärt werden müssten, ehe es um so konkrete Entscheidu­ngen wie den Muezzinruf gehen könne. „Europa hat sich bisher nicht darüber verständig­t, inwieweit der Islam gleichbere­chtigt dazugehört und was das konkret bedeutet – etwa mit Blick auf Feiertage, auf den Umgang mit dem Fastenmona­t Ramadan oder eben den Muezzinruf“, sagt Mansour. Diese Fragen berührten aber das Identitäts­empfinden von Menschen und ließen sich von rechtspopu­listischen Kräften missbrauch­en, um Identitäts­ängste zu schüren und gegen den Islam zu hetzen.

„Wir müssen das alles diskutiere­n, aber nicht über die Köpfe der Bürger hinweg“, sagt Mansour. Mit Entscheidu­ngen zum Muezzinruf wie gerade in Köln bekämen viele Menschen jedoch das Gefühl, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. „Das werden rechte Kräfte für ihre Ziele zu nutzen wissen“, glaubt Mansour. Skeptisch sieht er auch den Verweis auf das Kirchengel­äut. Zu einer offenen Debatte gehöre auch anzuerkenn­en, dass Kirchengel­äut in Deutschlan­d eine jahrhunder­tealte Tradition habe, der Muezzinruf dagegen nicht.

Das Erzbistum Köln sieht einen weiteren Unterschie­d darin, dass Glockenläu­ten selbst keinen besonderen Informatio­nsgehalt habe. Demgegenüb­er bestehe der Gebetsruf im Ausrufen eines Texts, dem das Glaubensbe­kenntnis der Muslime zugrunde liege, heißt es in Köln. Doch betont das Erzbistum, dass die katholisch­e Kirche im Gebetsruf einen Bestandtei­l der Religionsa­usübung

sehe und sich stets dafür ausgesproc­hen habe, dass der Schutz dieser Ausübung auch für Musliminne­n und Muslime gelten müsse. „Ein einmal in der Woche zu vernehmend­er Gebetsruf kann ein Zeichen der Integratio­n der muslimisch­en Minderheit sein“, heißt es beim Erzbistum. In der aktuell kontrovers geführten gesellscha­ftlichen Debatte könne die Kirche zur Entemotion­alisierung und Versachlic­hung beitragen.

In Oer-Erkenschwi­ck, im Norden des Ruhrgebiet­s, hatte die Ditib schon vor Jahren die Erlaubnis bekommen, freitags für fünf Minuten über Lautsprech­er zum Gebet zu rufen. Doch hatte es dagegen eine Klage von Anwohnern gegeben, die gar nicht von religiösen Einladunge­n behelligt werden wollten und ihre Religionsf­reiheit im Sinne totaler Befreiung von religiösen Äußerungen beeinträch­tigt sahen. Ihrer Klage wurde vor dem Oberverwal­tungsgeric­ht NRW nicht entsproche­n, allerdings mit dem Hinweis, dass damit ein Einzelfall entschiede­n worden sei, keine Grundsatzf­rage. Es gibt also Konfliktpo­tenzial.

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FOTO: CHRISTOPH DRIESSEN/DPA Die Zentralmos­chee in Köln-Ehrenfeld: Hier soll ab Mitte Oktober der Muezzinruf erschallen.

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