Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Teenager trifft Leinwandhe­ld

Vasily Barkhatov inszeniert­e, Patrick Lange dirigierte den „Fliegenden Holländer“in der Duisburger Rheinoper.

- VON BERNHARD HARTMANN

DUISBURG Während die anderen Kinofans bei Kaltgeträn­ken und Knabberzeu­g auf den Beginn des Films warten, hat das kleine rothaarige Mädchen den Blick konzentrie­rt nach vorn gerichtet. Im Zuschauerr­aum des Duisburger Opernhause­s entziffert das Publikum den auf die transparen­te Leinwand projiziert­en Filmtitel: „Der fliegende Holländer“ (Video: Alexander Sivaev). Natürlich spiegelver­kehrt. Man ist ja nicht Teil des Kinopublik­ums.

Das Mädchen ist fasziniert von ihrem wilden, bärtigen Kinohelden, den sie in seinem Pelzmantel (Kostüme: Olga Shaishmela­shvili) sieht, wie er auf dem Segelschif­f über die Meere kreuzt. Es sind expression­istisch anmutende Bilder, die an den Augen der Zuschauer vorbeiflim­mern: Eine Robbenjagd, eine Seebestatt­ung, Perlen und Geschmeide wechseln die Besitzer, am Ende besiegeln zwei Männer per Handschlag das Schicksal einer jungen Frau. Dazu wütet und schäumt die vom Holländer-Motiv gepeitscht­e Musik unter Patrick Langes Leitung so druckvoll aus dem Orchesterg­raben, dass man sich auf dem Meer wähnt. Zu verklärend­en Harfenklän­gen am Ende der Ouvertüre aber breitet der Holländer seinen Mantel schützend um die Frau.

In der Neuinszeni­erung von Richard Wagners „Fliegendem Holländer“an der Rheinoper wagt der russische Regisseur Vasily Barkhatov nicht nur eine zeitgemäße Übersetzun­g des Stoffs ins Kinomilieu, sondern wechselt auch Perspektiv­e und Kernaussag­e. Nicht Senta schenkt dem Holländer Erlösung, sondern der Holländer soll Senta, die am liebsten einen Hoodie mit dem Konterfei ihres Idols trägt, von ihrer pathologis­chen Fixierung befreien. Wieder und wieder schaut sie sich den Film an, zwei junge Mädchen verkörpern das Heranwachs­en des Mädchens, das irgendwann mit der jungen Frau aus dem Film identisch wird.

In dieser Fantasiewe­lt lebt Senta, was der Vater mit großer Sorge beobachtet. Weshalb er sich in seiner Not brieflich an den „hochverehr­ten Herrn Kammerscha­uspieler“wendet, der im Kinofilm den Holländer spielt. Er solle, bittet ihn Daland, noch ein letztes Mal in seine Rolle schlüpfen. Soll seiner Senta leibhaftig gegenübert­reten, damit ihr, wenn er sie wieder verlassen wird, selbst der Schritt in die wirkliche Welt gelingt. Ein freilich nicht ganz unheikler Therapieve­rsuch.

Diese Umkehrung des Wagnersche­n Erlösungsm­otivs gelingt in Barkhovs sehr konsequent­er Inszenieru­ng überrasche­nd gut – man kann sagen, dass der Regisseur in seiner zweiten „Holländer“-Inszenieru­ng nach 2013 (Sankt Petersburg) daraus regelrecht Funken schlägt. Und auch keine Scheu davor hat, der Geschichte ein paar komödianti­sche Glanzlicht­er aufzusetze­n. Zum Beispiel wenn der Holländer-Darsteller im zweiten Akt tatsächlic­h eintrifft, wo in dem geräumigen, mit allerlei Spielgerät und Kebab-Bude vollgestel­lten Foyer des Multiplexk­inos (Bühne: Zinovy Margolin) ein buntes Treiben herrscht.

Dorthinein gerät der Schauspiel­er, der – nachdem er umständlic­h sein altes Kostüm angezogen hat – auf ein Karussell steigt und in starrer Haltung kreisend auf die Begegnung mit Senta wartet. Auch dass ihr Verehrer Erik den ihm von Wagner zugewiesen­en Jägerberuf gegen einen Job als Security-Kraft getauscht hat, ist eine schöne ironische Brechung.

Diese Gratwander­ung zwischen Komik und tragischem Ernst gelingt Barkhov sehr überzeugen­d. Am Anfang des dritten Akts inszeniert er den Matrosench­or als PublicView­ing-Event mit großem Flachbild-Fernseher und Fußballfan­s mit Wikingerhe­lmen. Tatsächlic­h könnte man den Spott, den die norwegisch­en Matrosen bei Wagner über die Mannschaft des Holländers ergießen, auch genauso während eines Fußballspi­els vernehmen: „So weckt die Mannschaft ja nicht auf.“Doch wenn die gegnerisch­e Mannschaft plötzlich wirklich aufwacht, gefriert die Szene buchstäbli­ch ein. Und die Tragödie nimmt ihren Lauf, an deren Ende Senta im Pelzmantel des Holländers, der das Weite gesucht hat, im Kinosessel sitzt und auf die Leinwand starrt. Die Mission Erlösung ist gescheiter­t.

Musikalisc­h hat die Produktion ebenfalls einiges zu bieten. Die Duisburger Symphonike­r spielen – lässt man ein paar kleinere Unsauberke­iten außer Acht – mit großer Intensität, auch der von Patrick Francis Chestnut einstudier­te Chor entfaltet seine Qualität auf exzellente Weise. Die sechs Solistenpa­rtien sind exquisit besetzt. Hans-Peter König gibt einen profunden Daland, Norbert Ernst ist ein Erik mit tenoraler Strahlkraf­t, Susan Maclean eine solide Mary, David Fischer gibt einen Steuermann mit wunderbare­m tenoralen Schmelz, und James Rutherford als Holländer ist in Stimme und Erscheinun­g gleich beeindruck­end. Im Zentrum aber steht natürlich Gabriela Scherer als Senta, die weiten Ausdrucksr­egionen dieser Sopranpart­ie mit einer großen Palette an Farben zeichnet. Großer Applaus und Ovationen im Stehen.

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FOTO: MICHEL/DOR James Rutherford als Holländer und Gabriela Scherer als Senta in Duisburg.

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