Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Ich finde recht harmlos, was ich mache“
Als Kabarettist stellt er die Dinge infrage. Aber worüber darf man sich lustig machen und wo ist die Grenze?
Herr Nuhr, wie funktioniert eine gute Pointe?
NUHR Das weiß ich nicht.
Nein?
NUHR Wenn ich das wüsste, wäre das Schreiben meines Programms ein maschineller Vorgang. Ich mag überraschende Gedanken. Ich neige beim Denken zu Ironie, und immer dann, wenn ich einen neuen Standpunkt finden kann oder einen Blickwinkel, der sich vom Gewohnten unterscheidet, wird es für mich interessant.
Das klappt ja bei fast jedem Thema. Woher kommt die Inspiration? NUHR Aus der Alltagsverzweiflung an der Welt. Wobei, das klingt zu negativ. Ich bin gar nicht verzweifelt. Aber wir diskutieren wahnsinnig viel über Dinge, die zweitrangig sind. Ständig werden Zeichen gesetzt, und es wird Symbolpolitik gemacht, anstatt anzupacken. Wir ringen meistens nicht um die beste Lösung, sondern ums Rechthaben, und ideologische Linientreue wird höher bewertet als intellektuelle Eigenständigkeit. Das offenzulegen, darauf beruht im Wesentlichen mein Humor.
Man wirft Ihnen oft vor, Sie machten sich über Schwächere lustig. NUHR Das ist selbstverständlich Unsinn. Ich lache über alle, auch über mich. Wen ich auslasse, unterliegt meiner persönlichen Geschmacksgrenze. Die ist nicht exakt benennbar. Witze haben ja im besten Fall etwas Anarchisches. Humor ist individuell. Meine Geschmacksgrenze ist, was das angeht, wahrscheinlich identisch mit der meines Publikums, sonst kämen die Leute ja nicht.
Kritisiert wurden Sie 2019 für einen Witz über Greta Thunberg: „Ich bin gespannt, was Greta macht, wenn es kalt wird. Heizen kann es ja wohl nicht sein.“
NUHR Ein geradezu visionärer Scherz! Greta Thunberg war damals die mächtigste Frau der Welt. Sie sprach vor der UN und beschimpfte die Regierungschefs der Welt. Jeder bei uns nickte und sagte: „Greta hat gesprochen!“Der Vorwurf, das wäre „Nach-unten-Treten“, war deshalb völlig absurd.
Trotzdem treten doch Ihre Kollegen meist viel geräuschloser auf.
NUHR Ich finde es recht harmlos, was ich auf der Bühne mache. Aber mein Humor beschäftigt sich halt im Wesentlichen damit, Dinge infrage zu stellen. Ich denke unabhängig und nicht aus einem Lager heraus. Das ist für viele unerträglich. Es gibt immer mehr Menschen, die glauben, die Wahrheit gepachtet zu haben, und sie müssten sich nicht mehr hinterfragen. Arroganz macht aggressiv. Für diese Aggression diene ich als Projektionsfläche.
Oft thematisieren Sie Political Correctness. Manchmal klingt das so, als glaubten Sie, die Meinungsfreiheit sei in Gefahr.
NUHR Selbstverständlich ist sie das.
Ist das Ihr Ernst?
NUHR Auch freie Forschung und freier Journalismus sind in Gefahr. Ich nehme den Satz „Wehret den Anfängen“ernst. Man darf alles sagen, muss allerdings damit rechnen, beschimpft, ausgegrenzt und als Idiot behandelt zu werden. Die sozialen Kosten der freien Meinungsäußerung werden immer höher. Ich habe eine eigene Sendung und anderthalb Millionen Follower, ich kann mich wehren. Das gilt für viele andere nicht, deren Karrieren zerstört werden. Dass ich noch da bin, wird oft als Beweis genommen, dass es keine Cancel Culture gibt. Nur: Dass die Cancel Culture bei mir gescheitert ist, ist ja kein Beweis dafür, dass es sie nicht gibt. Viele Forschungsprojekte werden gar nicht erst angegangen, im autoritären Klima herrscht vorauseilender Gehorsam. Künstler reden in dieser Stimmung lieber nach dem Mund, anstatt eigene Gedanken zu entwickeln.
Sie haben mal in einem Interview gesagt: Pazifistisch kann man die Welt nicht organisieren, solange nicht alle Pazifisten sind. Gilt das im Ukraine-Krieg noch?
NUHR Mehr denn je. Viele Dinge in diesem Interview waren leider visionär, gerade die Passagen über Krieg und Frieden. Natürlich kann man die Welt erst friedlich organisieren, wenn alle friedlich sind. Es gab in der Geschichte der Menschheit noch nie den Fall, dass ein Angegriffener die Waffe wegwirft, und daraufhin sagt der Angreifer: „Oh, ein Pazifist! Da werfe ich meine Waffe ebenfalls weg.“
Und doch haben Sie einen Brief unterschrieben, der gegen die Lieferung schwerer Waffen argumentiert und den Anschein erweckt, es wäre für die Ukraine besser, sich zu ergeben. NUHR Die Zusammenfassung des Inhaltes ist falsch. Egal. Ich habe unterschrieben, weil ich helfen wollte, eine Diskussion anzustoßen. Indessen bildet sich zu allen wichtigen Themen ein einziger vertretbarer Mehrheitsstandpunkt, und dann gilt jede Abweichung als irre oder extremistisch. Das war bei Corona schon unerträglich. Sobald man sagte, dass man dies oder das anders bewerten oder andere Maßnahmen befürworten würde, war man Corona-Leugner, „Querdenker“oder rechts, ein Vollidiot. Am Anfang des Krieges fing das wieder an. Der Brief hat es geschafft, eine Diskussion über Kriegsziele anzustoßen, mit dem üblichen Preis für die Unterzeichner: Sie galten fortan als sozial zweifelhaft.
Sie waren mal Mitglied der Grünen. Was verbindet Sie heute noch? NUHR Ganz viel. Ich bin ja mit linksgrüner Ästhetik aufgewachsen. Ich habe damals gestrickt im Unterricht. Ich habe bis heute viel Sympathie für Naturschutz und Naturerhaltung. Klimawandel und Artensterben sind wichtige Themen. Mich stören aber grundsätzlich primitive Lösungen für komplexe Probleme. Und die unter Grünen weithin verbreitete antimodernistische, naive Naturromantik.