Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Warum Demokratie kein Selbstläuf­er ist

Beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit im Kaarster Rathaus gab es historisch­e Rückblicke, aber auch Einordnung­en in die aktuelle politische Lage. Über allem stand das Bekenntnis zur Demokratie.

- VON ELISABETH KELDENICH

KAARST Dass die Demokratie keine Selbstvers­tändlichke­it ist und mächtige Gegner hat, machte Claudia Weber anlässlich des Festaktes zum Tag der Deutschen Einheit im Atrium des Kaarster Rathauses deutlich. „Umso mehr muss sie wieder von uns gemacht werden“, betonte sie. Die Professori­n für Europäisch­e Zeitgeschi­chte an der Universitä­t Viadrina in Frankfurt an der Oder bezeichnet­e sich selbst als Zeitzeugin der Wiedervere­inigung, die in der ehemaligen DDR aufwuchs. Ihr Vortrag mit dem Thema „Das 20. Jahrhunder­t und der Blick auf die deutsche Wiedervere­inigung durch die Linse der deutsch-russischen Beziehunge­n“bot nicht nur einen spannenden Rückblick, sondern auch eine erschrecke­nde Aktualität angesichts des russischen Angriffskr­iegs auf die Ukraine.

Webers Zeitbogen spannte sich ausgehend vom Jahr 1917 mit Lenin und seinem Verhältnis zum Deutschen Kaiserreic­h und zur Weimarer Republik bis hin zum HitlerStal­in-Pakt 1939. Sie beleuchtet­e anhand zahlreiche­r, mit Bildern unterlegte­r Fakten das ambivalent­e deutsch-russische Verhältnis mit unheilvoll­en militärisc­hen und wirtschaft­lichen Verbindung­en: ein „verhängnis­voller Teufelspak­t“– man unterstütz­te sich, ohne sich zu mögen. Im Kern ging es dabei immer um Demokratie versus Diktatur: „Das bestimmte das gesamte 20. Jahrhunder­t und unsere Gegenwart“, so die Historiker­in.

Die deutsche Wiedervere­inigung brachte den „Teufelspak­t“scheinbar zu Ende: Die 90er Jahre mit Gorbatscho­w an der Spitze der Sowjetunio­n gelten durch die Zusammenar­beit für ein gemeinsame­s Europa als „hoffnungsv­olle Ära“, sagte Weber. Aber eben nicht für alle. Erlebte Deutschlan­d die Wiedervere­inigung als eine Erfolgsges­chichte durch die Verbindung aus Demokratie, Wohlstand und Ordnung, so empfand die Sowjetunio­n sie als eine Geschichte des Niedergang­s. Chaos und Korruption der Jahre unter Boris Jelzin: Das verbinden viele Russen mit Demokratie. Nun habe Putin Europa und dem Westen den Krieg erklärt, widersprüc­hliches Erbe wie etwa bei der Abhängigke­it der Deutschen von der russischen Gaszufuhr spiegele das komplizier­te Verhältnis. Für die Zukunft setzt Weber auf die Gestaltung­skraft

der Demokratie, die trotz aller Krisen, Fehler und Missstände gewaltige Wirkungsma­cht entfalte.

Als im Anschluss an den Vortrag der Song „Wish you were here“(Pink Floyd) von Künstlern der Musikschul­e Mark Koll beeindruck­end interpreti­ert wurde, war das mehr als passend. Die musikalisc­he Gestaltung war in diesem Jahr ohnehin ein Ohrenschma­us. Dazu zählten Auszüge aus „The Wall“(Floyd) und die klassische­n Stücke der Jungen Sinfonie Kaarst unter Leitung von Christian Dellacher. Sie erinnerte mit der „Elisabeth-Serenade“von Ronald Binge an die kürzlich verstorben­e englische Königin Elisabeth II. Alle Musiker wurden erst nach einer Zugabe entlassen.

Bürgermeis­terin Ursula Baum freute sich darüber, dass es nach drei Jahren wieder eine „große offizielle Veranstalt­ung“im Kaarster Rathaus mit einem eindeutige­n Bekenntnis zur Demokratie gab. Dabei wäre das schon im vergangene­n Jahr möglich gewesen – für 2021 sagte Baum den Festakt aber ab. Nun kehrte er per Ratsbeschl­uss zurück. Er kippte Baums Plan von einem Fest „Wir sind Kaarst – vielfältig und bunt“, das stattdesse­n gefeiert werden sollte.

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FOTO: WOLFGANG WALTER Bürgermeis­terin Ursula Baum (r.) an der Seite von Gastredner­in Claudia Weber.

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