Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Durchbruch für Dormagens „Knollen“auf großem Areal
Es traf die Dormagener Bauern sehr, als auch die beiden Zonser Zuckerrübenfabriken geschlossen wurden. Der mühsam durchgesetzte Fruchtfolge-Anbau drohte zu kippen, eine Ersatzverwertung für die „Knolle“gab es noch nicht. Einige Bauern fuhren ihre Knollen mit der Karre am Niederrhein entlang, manchmal bis nach Duisburg, wo sie ihre Früchte verkaufen konnten. Den endgültigen Durchbruch erzielte dann die Firma „Rath, Joest & Carstanjen“aus Köln. Am 20. Mai 1863 beantragte die Firma die Genehmigung, auf dem Grundstück im „Kirchfelde“eine „Runkelrübenzuckerfabrik“zu errichten.
Die erste „Kampagne“, so nennt man die Zeit im Herbst und Winter, in der die Rüben geerntet und verarbeitet werden, begann schon im September 1864 und ging bis Februar 1865. In den ersten zehn Jahren bauten die Bauern in Dormagen und Umgebung noch nicht genügend Zuckerrüben an. Deshalb betrieb der inzwischen gegründete „Actien-Verein für Rübenzuckerfabrikation“selber Rübenanbau. Große Flächen wurden von den Bauern in Pacht übernommen. Die Flächen des Rheinfelderhofes wurden zum Beispiel ab dem Jahre 1864 für den Preis von 36 Mark pro Morgen, inklusive Steuern, vom Actien-Verein gepachtet. Allmählich stellten aber die Bauern ihre Anbaugewohnheiten vollständig um, sodass die Fabrik den Eigenanbau 1876 ganz eingestellen konnte.
Nach dem ersten Weltkrieg steuerte das Deutsche Reich in eine große Wirtschaftskrise, die Inflation nahm unvorstellbare Ausmaße an. Das bekamen auch die Bauern zu spüren, die in der Zuckerfabrik ihre Knollen ablieferten und dafür Geld sehen wollten. Da täglich der Wert des Geldes geringer wurde, erhielten sie Gutscheine, die sie später einlösen konnten. Dieses finanzielle Dilemma traf auch die Arbeiter in der Zuckerfabrik, die wirklich Schwerstarbeit leisten mussten. Sie „malochten“sechs Tage in der Woche und bis zu zehn Stunden pro Tag. Bekamen sie dann zum Beispiel eine Million Reichsmark als Lohn dafür ausgezahlt, konnten sie sich dafür doch nur das Nötigste kaufen.
In den 1930er Jahren wurde die Fabrik mehrfach erweitert und umgebaut. Die ersten Gastarbeiter aus dem Bayrischen Wald kamen für die Zeit der Kampagne und schufteten für geringes Geld. Sie wohnten in extra dafür gebauten Gastarbeiterhäusern auf dem Fabrikgelände an der Straße „Auf dem Höhenberg“. Gar manche Frau und mancher Mann blieb später für immer hier, heiratete und wurde Dormagener. Im Laufe der Zeit wurde die Fabrik mehrmals von anderen Unternehmern übernommen.
Bis zum Ende der 50er Jahre kamen die Rüben mit Kippkarren und anderen Pferde-Fuhrwerken vom Feld bis zum Abkipp-Gelände neben der Kirchstraße, wo sie wahre Rübenberge bildeten. Erst gegen Ende des Jahrzehnts war die Nachkriegskrise überwunden und die Bauern schafften sich Traktoren an, die auch große Hänger ziehen konnten. Außerdem war auch der Bahnanschluss inzwischen erfolgt und aus dem nahen und weiteren Rheinland kamen die Zuckerrüben nun mit Güterzügen nach Dormagen.
Wenn der Geruch aus der Zuckerfabrik wie ein schweres, nasses Tuch über der Stadt hing, dann wusste jeder, die „Kampagne“läuft. Aber nicht nur am süßlichen Geruch der Melasse machte man die Zuckerrübenernte fest. Die Zeit der Rübenkampagne geht von Ende September bis Mitte November, und in dieser Zeit wurde es eng auf Dormagens Straßen. Vom frühen Morgen, wenn der Berufsverkehr einsetzte, bis zum Abend, wenn sich der Verkehr in die andere Richtung bewegte, waren die Straßen von Rübenfahrzeugen blockiert. In langer Reihe standen sie auf den Straßen, rückten nur sehr langsam vor, um dann auf dem riesigen Areal der Zuckerfabrik die Zuckerrübenberge weiter auszubauen.
Ab Anfang der 1950er Jahre war die Bezeichnung „Zuckerfabrik“eigentlich nicht mehr korrekt, denn das Unternehmen „Pfeifer & Langen“, das die Fabrik nun führte, ging in seinem Werk Dormagen einen neuen Weg. Dort wurde nun aus der Knolle Poly-Glucose, Dextran genannt, produziert. Hierbei handelte es sich um einen Blutplasma-Ersatzstoff. 1965 erfand „Pfeifer & Langen“zudem den Gelierzucker und schrieb damit Lebensmittelgeschichte. Dieser wurde später auch von Lizenznehmern im In- und Ausland hergestellt. Aus Zuckerrübenschnitzeln wurde im Werk Dormagen 1966 erstmals ein Futtermittel entwickelt. Das Herstellungsverfahren und die Zusammensetzung des Produktes wurden patentiert. Große Kühltürme und die mächtigen runden Türme für die Melasse waren nun die Wahrzeichen der großen Zuckerrüben-Fabrik. Da ahnte noch niemand, dass das Ende bereits beschlossen war.
1977 erfolgte der Bau einer neuen und hochmodernen Zuckerfabrik in Kalkar-Appeldorn. Damit sollte das nördliche Rheinland für den Rübenanbau erschlossen werden. Die Anlage war so groß, dass sie den Betrieb in der inzwischen veralteten Anlage in Dormagen überflüssig machte. Zwar mussten nun die Knollen aus dem sehr weiten Umland herangekarrt – oder mit der Bahn angeliefert werden – aber das wurde in Kauf genommen. Zwei Jahre später – Mitte 1979 – wurde die Zuckerproduktion im Werk Dormagen eingestellt. Im Juli 2008 begann dann der Abriss der Zuckerfabrik.