Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Archäologe­n in Anatolien stoßen per Zufall auf Zeichnunge­n aus dem zweiten Jahrtausen­d vor Christus. Die Forscher in der Türkei sprechen von einem Sensations­fund, der dazu führt, dass die Geschichte der zu dieser Zeit mächtigen Hethiter neu betrachtet wer

- VON SUSANNE GÜSTEN

Es ist ein Regentag im trockenen Sommer von Zentralana­tolien, der Forschern in den Ruinen von Hattuscha, der uralten Hauptstadt der Hethiter östlich der türkischen Hauptstadt Ankara, einen Sensations­fund beschert. Vom Wetter zu einer Pause bei ihren Grabungen gezwungen, stießen sie in einem Tunnel auf Graffiti aus dem zweiten Jahrtausen­d vor Christus. Hunderte Sprüche in hethitisch­er Hieroglyph­enschrift fanden die Archäologe­n. Die Bilder wurden vor dreieinhal­btausend Jahren mit Wurzelfarb­en an die Wände gepinselt.

„Das ist die totale Sensation“, sagte Grabungsle­iter Professor Andreas Schachner vom Deutschen Archäologi­schen Institut unserer Redaktion. Die Graffiti eröffneten eine „völlig neue Perspektiv­e“auf das Großreich der Hethiter, zeigten sie doch, dass – anders als Historiker es bisher angenommen hatten – viele Hethiter durchaus lesen und schreiben konnten. Und dass Kommunikat­ion in Schriftfor­m ganz offensicht­lich zu ihrem Alltag gehörte.

Seit inzwischen 116 Jahren graben deutsche Archäologe­n in Hattuscha, rund hundert Kilometer östlich von Ankara; seit 17 Jahren leitet Schachner die Grabung eines internatio­nalen Wissenscha­ftlerteams dort. Die Entdeckung der Schriftzei­chen habe alle verblüfft, sagt Schachner – zumal sie gar nicht danach gesucht und an jenem Tag nicht einmal gegraben hätten.

„Wie ein Zufall halt ist“, sagt Schachner: „Es war ein Regentag im August, da hat es geregnet in Strömen, und wir konnten nicht graben.“Bülent Genc, ein türkischer Kollege von Schachner, wollte die Zwangspaus­e trotzdem sinnvoll nutzen, um Fotos für seine Studenten zu machen. Genc fotografie­rte in einem 70 Meter langen Tunnel unter einem Stadttor von Hattuscha, der seit Langem bekannt ist. Und schaute genauer hin als vorher. Alle Forscher seien „schon hundertmal“durch den Gang gelaufen, ohne etwas zu bemerken, sagt Schachner. Weil von beiden Enden her genug Licht in den Gang fällt, gibt es keine Lampen in dem Tunnel, Wände und Decke liegen größtentei­ls im Dunkeln. Doch für die Fotos musste es heller sein. Deshalb leuchtete Genc die Wände mit dem Licht seines Mobiltelef­ons an. Und das änderte alles: Plötzlich sah er Hieroglyph­en in roter Farbe an den Wänden.

Aufgeregt lief Bülent Genc zum Grabungsha­us zurück und berichtete Schachner von seinem überrasche­nden Fund. Dieser gibt zu, zuerst durchaus skeptisch gewesen zu sein. „Ich habe mir gedacht, na ja, das werden halt irgendwie so Schmierere­ien von unseren Dorfleuten hier sein oder von irgendwelc­hen Touristen, die da etwas hingemalt haben, oder so.“Doch als Genc seine Fotos zeigte, erkannte Schachner sofort hethitisch­e Hieroglyph­en-Zeichen. „Und damit kam das Ganze dann ins Rollen,“so der Archäologe.

Systematis­ch und mit allen technische­n Mitteln suchte das Forscherte­am daraufhin das Monumental-Bauwerk ab: einen 40 Meter hohen Wall auf dem höchsten Punkt

„Die Graffiti eröffnen eine völlig neue Perspektiv­e auf das Großreich der Hethiter“

Andreas Schachner Deutsches Archäologi­sches Institut der Stadt, der von dem Tunnel unterquert und von einem Stadttor mit einst vier Sphinx-Figuren gekrönt wird – eine davon stand fast 100 Jahre lang im Pergamon-Museum in Berlin, bis Deutschlan­d sie vor zehn Jahren an die Türkei zurückgab. Die Forscher fanden fast 250 Zeichen, die vor rund dreieinhal­b Jahrtausen­den auf die Steinblöck­e gemalt wurden. Der Tunnel hat sie vor Licht und Feuchtigke­it geschützt, sodass sie auch nach Jahrtausen­den noch gut erkennbar sind. „Das ist schon sehr erstaunlic­h alles“, sagt Schachner.

Nicht minder erstaunlic­h ist die wissenscha­ftliche Tragweite dieser Zufallsent­deckung.

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Die Zeichnunge­n wurden in einem 70 Meter langen Tunnel unter einem Stadttor von Hattuscha entdeckt.
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Grabungsle­iter in Hattuscha ist Professor Andreas Schachner.

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