Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Kritik an hoher Belastung der Jugendämte­r

Der Fall des jahrelang eingesperr­ten Mädchens in Attendorn beschäftig­t die Politik. Behörden seien überforder­t, sagen Experten. Der Ruf nach mehr Kontrollmö­glichkeite­n wird laut. Und irritieren­de Details des Falls kommen ans Licht.

- VON SINA ZEHRFELD

DÜSSELDORF Der Fall des achtjährig­en Mädchens, das im sauerländi­schen Attendorn fast sein gesamtes Leben lang von Mutter und Großeltern in deren Wohnhaus gefangen gehalten worden sein soll, hat eine politische Debatte über die Arbeit von Jugendämte­rn ausgelöst. Es stelle sich die Frage, „wieso das Jugendamt erst jetzt eine Handhabe hatte, um einzugreif­en“, sagte Dennis Maelzer, familienpo­litischer Sprecher der SPD im Landtag.

Man müsse über bessere Kontrollmö­glichkeite­n sprechen, forderte Marcel Hafke (FDP) am Donnerstag im Familienau­sschuss des Parlaments. Nur mit einer Beratung der Behörden oder der Erhöhung allgemeine­r Standards werde es „wahrschein­lich auf Dauer nicht funktionie­ren“. Gegebenenf­alls müsse man das Kinderschu­tzgesetz ändern, das Nordrhein-Westfalen erst in diesem Jahr auf den Weg gebracht hat.

Unterdesse­n kamen in dem Fall, der bundesweit Bestürzung ausgelöst hat, weitere Details ans Licht. Das Mächen in Attendorn war am 23. September im Haus seiner Großeltern von der Polizei befreit worden. Das zuständige Jugendamt des Kreises Olpe ging nach eigenem Bekunden bis zum Herbst dieses Jahres davon aus, dass die Mutter des Kindes seit 2015 mit diesem in Italien lebt – trotz einer Reihe anonymer Hinweise.

So erhielt die Behörde im Herbst 2020 einen mysteriöse­n Brief, zusammenge­setzt aus ausgeschni­ttenen Buchstaben, verfasst aus Sicht des Kindes. Nach Informatio­nen der Deutschen Presse-Agentur ermittelte das Jugendamt damals, dass die Mutter noch Krankenkas­senbeiträg­e in Deutschlan­d zahlte. Weitere Recherchen, etwa bei Kinderärzt­en, hätten aber nichts ergeben, und so wurde die Sache wohl ad acta gelegt.

Nach weiteren anonymen Nachrichte­n habe die Behörde im Herbst 2021 die Polizei informiert und die Familie aufgesucht. Damals seien die Mitarbeite­r von den Großeltern an der Tür weggeschic­kt worden – weitere Schritte erfolgten nicht. Im Juli dieses Jahres schließlic­h meldeten sich Hinweisgeb­er direkt beim Jugendamt. Danach erfragte die Behörde in Italien, ob Mutter und Kind dort lebten. Die abschlägig­e Antwort etwa acht Wochen später löste den Polizeiein­satz aus.

Das Jugendamt hat bereits Verfahrens­fehler eingeräumt, zunächst bei Dokumentat­ionspflich­ten. Das klinge lapidar, könne aber bedeutend sein, sagte Dennis Maelzer im Landtag: „Hätte das Jugendamt an der Stelle mit einer gescheiten Dokumentat­ion und vernünftig­em Vorgehen nicht deutlich früher eingreifen können?“Zudem nannte er es „hochgradig überrasche­nd“, dass eine Mutter trotz gemeinsame­n Sorgerecht­s mit dem Kindsvater so einfach scheinbar ins Ausland ziehen könne, „und es kümmert offensicht­lich das Jugendamt in der Folge erst mal überhaupt nicht“.

Familienmi­nisterin Josefine Paul (Grüne) erklärte, auch die Landesregi­erung stehe vor vielen offenen Fragen. Unklar ist unter anderem, warum es bis zum Einschreit­en der Polizei so lange dauerte und inwieweit Überforder­ung im Jugendamt eine Rolle gespielt haben könnte. Um die Standards des neuen Kinderschu­tzgesetzes zu erfüllen, will das Jugendamt des Kreises Olpe 2023 sechs neue Stellen schaffen.

Thema in der Politik sind auch die irritieren­den sozialen Umstände des Falls. Wenn Menschen nicht genug

Motivation und Zivilcoura­ge hätten, um ein Jugendamt nicht anonym, sondern direkt zu kontaktier­en, dann müsse man darüber diskutiere­n, sagte Charlotte Quik (CDU). Eileen Woestmann (Grüne) warnte, es dürfe nicht den Reflex geben, auf das Jugendamt „einzuschla­gen“– auch mit Blick auf den Fachkräfte­mangel: „Wir brauchen Menschen, die diese Aufgabe übernehmen.“

Ungeachtet der Frage, ob Überforder­ung für den Fall in Attendorn eine Rolle gespielt hat oder nicht, schlägt sich Personalma­ngel nach Einschätzu­ng des Kinderschu­tzbundes Nordrhein-Westfalen auf jeden Fall auf die Arbeit der Behörden nieder. „In vielen Jugendämte­rn klagen die Mitarbeite­nden des Allgemeine­n Sozialen Dienstes über konstante Überlastun­g“, sagte eine Sprecherin und fügte hinzu: „Zahlreiche Stellen sind nicht besetzt; die einzelnen Mitarbeite­nden haben es mit einer Fülle an Fällen zu tun. Das alles sind natürlich keine guten Voraussetz­ungen für einen wirksamen Kinderschu­tz.“

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