Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Studierende spielen um ihre Zukunft
200 Nachwuchsschauspielende stellen sich in dieser Woche in Neuss vor: Beim zentralen Vorsprechen hoffen sie darauf, eine Festanstellung zu bekommen. Viele Klassiker waren zu sehen, Männer setzten auf Komik.
NEUSS Einmal im Jahr wird das Rheinische Landestheater zum Camp. Wo sonst die Abendgäste ihre Garderobe abgeben, stapeln sich dann Rucksäcke, große Taschen und viele Kleiderbündel. Man könnte glauben, hier sei der Kostümfundus des Hauses geplündert worden.
Die Wahrheit sieht anders aus: Immer in der 46. Kalenderwoche wird das Rheinische Landestheater (RLT) für junge Schauspielende genauso wichtig wie die Bühnen in Berlin und München. Sie reisen in diese drei Städte zum „Vorsprechen der Schauspielhochschulabsolventen“. Ihre Auftritte, meist auf unscheinbaren Probebühnen, sind genau geplant. Mehr als 10 Minuten hat keiner der frisch Diplomierten, um sich beim versammelten Fachpublikum ins rechte Licht zu setzen. Für Intendanten und Dramaturgen erleichtert diese Organisation ihre Suche nach neuen Ensemble-Mitgliedern. Früher mussten sie durch die ganze Republik reisen, wenn sie Hinweise auf junge Talente persönlich in Augenschein nehmen wollten.
Die Erleichterung ihrer Arbeit verdanken die Theaterleute der früheren Neusser Intendantin Ulrike Schanko. Sie hatte die Idee, das Vorsprechen der 21 Hochschulen zu bündeln, und so kommt es, dass das RLT Neuss eine Woche lang genauso bedeutend wird wie die großen Häuser in Berlin und München. Und die Reise an den Niederrhein genauso aufregend. Zum Beispiel für den Schweizer Rino Hosennen. Er hat gleich das Größtmögliche vorbereitet, Shakespeares Hamlet-Monolog. Sein erster Auftritt in München machte ihm allerdings klar, dass er in dieser Woche nicht vor einem Jubelpublikum steht: „Das ist eine echte Herausforderung. Die Zuschauer sind sehr reserviert. Wir geben viel Energie in den Raum, aber es kommt nichts zurück. Hier in Neuss versuche ich, besser damit klar zu kommen.“In positiver Erinnerung wird Hosennen auf jeden Fall ein Neusser Casting-Seminar bleiben. Dort haben die Absolventen erfahren, nach welchen Kriterien die Profis neue Rollen bei Film und Fernsehen besetzen.
Schon geht es weiter im vollbesetzten Raum der Studiobühne. Nach den Hochschulen aus Frankfurt und Ludwigsburg ist Rostock an der Reihe. Die elf Darsteller beginnen mit einem derben Witz und dem witzigen Wörtlichnehmen einer Redensart: „Ich habe eine ruhige Kugel von Rostock nach Neuss geschoben.“Im Übrigen wird aber viel Klassisches gespielt, vor allem bei den Solos. Die Frauen zeigen die Marie aus Büchners „Woycek“, die Pauline Piperkarcka aus Hauptmanns „Ratten“, sogar Goethes Gretchen ist dabei. Bei den Männern dominieren die Komiker, neben dem buckligen Herzog von Gloucester, Shakespeares späterem Richard III. Geradezu anrührend, aber auch ziemlich verloren wirkt es dann, wenn eine sehr junge Medea ihren Weltschmerz in den Studiokeller-Himmel schreit. Aber das ist wohl eine Eigentümlichkeit der Theaterwelt.
In den ausliegenden Bewerbungsprofilen
der Absolventen aus Ludwigsburg taucht gleich nach dem Namen der Begriff „Pronomen“auf. Das ist eine neue Sache in der Welt der jungen Darstellenden, erläutert Kai Wolters von der Arbeitsagentur. „Man möchte selbst entscheiden, mit welchem Pronomen über einen gesprochen wird. Also ob eine Person mit männlichem Vornamen als ‚er‘ bezeichnet werden darf. Manche Bewerber weichen dann bei den Pronomina auf englische, genderneutrale Wörter aus. Das gilt auch für den Schriftverkehr.“Wolters, der nach über zwanzig Jahren als Darsteller und Regisseur am RLT derzeit für die Fachvermittlung der Arbeitsagentur tätig ist, findet die GenderWelle nicht schlecht: „So bekämpft man Diskriminierung.“
Wer die Absolventen des Wiener Max-Reinhardt-Seminars, für die Neuss nach Berlin ebenfalls die zweite Station ist, nach ihrer Ausbildung
befragt, stößt bald auf den Namen einer Darstellerin aus der Fernsehserie „SoKo Wien“. Die Nebenrolle der Pathologin spielt dort eine der renommiertesten Schauspielerinnen des Burgtheaters, die gleichzeitig aber auch eine der Leiterinnen der Schauspielschule ist: Maria Happel. Happel ermutigt die jungen Leute immer wieder mit einer Szene aus dem Beginn ihrer eigenen Karriere. Zwar bestand sie ihre Aufnahmeprüfung aufgrund ihres „erfrischenden, ländlich unverbrauchten Gefühlsempfindens“, aber ihre Lehrer sprachen ihr bereits nach wenigen Monaten jegliches Talent ab. „Für jemanden wie mich gebe es keine geeigneten Rollen am Theater“, erzählt sie am Max-Reinhardt-Seminar. „Doch bald kehrten sich meine Trauer, Wut und Verzweiflung um in eine nicht ins Wanken zu bringende Spiellust. Bis heute.“