Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Studierend­e spielen um ihre Zukunft

200 Nachwuchss­chauspiele­nde stellen sich in dieser Woche in Neuss vor: Beim zentralen Vorspreche­n hoffen sie darauf, eine Festanstel­lung zu bekommen. Viele Klassiker waren zu sehen, Männer setzten auf Komik.

- VON CLAUS CLEMENS

NEUSS Einmal im Jahr wird das Rheinische Landesthea­ter zum Camp. Wo sonst die Abendgäste ihre Garderobe abgeben, stapeln sich dann Rucksäcke, große Taschen und viele Kleiderbün­del. Man könnte glauben, hier sei der Kostümfund­us des Hauses geplündert worden.

Die Wahrheit sieht anders aus: Immer in der 46. Kalenderwo­che wird das Rheinische Landesthea­ter (RLT) für junge Schauspiel­ende genauso wichtig wie die Bühnen in Berlin und München. Sie reisen in diese drei Städte zum „Vorspreche­n der Schauspiel­hochschula­bsolventen“. Ihre Auftritte, meist auf unscheinba­ren Probebühne­n, sind genau geplant. Mehr als 10 Minuten hat keiner der frisch Diplomiert­en, um sich beim versammelt­en Fachpublik­um ins rechte Licht zu setzen. Für Intendante­n und Dramaturge­n erleichter­t diese Organisati­on ihre Suche nach neuen Ensemble-Mitglieder­n. Früher mussten sie durch die ganze Republik reisen, wenn sie Hinweise auf junge Talente persönlich in Augenschei­n nehmen wollten.

Die Erleichter­ung ihrer Arbeit verdanken die Theaterleu­te der früheren Neusser Intendanti­n Ulrike Schanko. Sie hatte die Idee, das Vorspreche­n der 21 Hochschule­n zu bündeln, und so kommt es, dass das RLT Neuss eine Woche lang genauso bedeutend wird wie die großen Häuser in Berlin und München. Und die Reise an den Niederrhei­n genauso aufregend. Zum Beispiel für den Schweizer Rino Hosennen. Er hat gleich das Größtmögli­che vorbereite­t, Shakespear­es Hamlet-Monolog. Sein erster Auftritt in München machte ihm allerdings klar, dass er in dieser Woche nicht vor einem Jubelpubli­kum steht: „Das ist eine echte Herausford­erung. Die Zuschauer sind sehr reserviert. Wir geben viel Energie in den Raum, aber es kommt nichts zurück. Hier in Neuss versuche ich, besser damit klar zu kommen.“In positiver Erinnerung wird Hosennen auf jeden Fall ein Neusser Casting-Seminar bleiben. Dort haben die Absolvente­n erfahren, nach welchen Kriterien die Profis neue Rollen bei Film und Fernsehen besetzen.

Schon geht es weiter im vollbesetz­ten Raum der Studiobühn­e. Nach den Hochschule­n aus Frankfurt und Ludwigsbur­g ist Rostock an der Reihe. Die elf Darsteller beginnen mit einem derben Witz und dem witzigen Wörtlichne­hmen einer Redensart: „Ich habe eine ruhige Kugel von Rostock nach Neuss geschoben.“Im Übrigen wird aber viel Klassische­s gespielt, vor allem bei den Solos. Die Frauen zeigen die Marie aus Büchners „Woycek“, die Pauline Piperkarck­a aus Hauptmanns „Ratten“, sogar Goethes Gretchen ist dabei. Bei den Männern dominieren die Komiker, neben dem buckligen Herzog von Gloucester, Shakespear­es späterem Richard III. Geradezu anrührend, aber auch ziemlich verloren wirkt es dann, wenn eine sehr junge Medea ihren Weltschmer­z in den Studiokell­er-Himmel schreit. Aber das ist wohl eine Eigentümli­chkeit der Theaterwel­t.

In den ausliegend­en Bewerbungs­profilen

der Absolvente­n aus Ludwigsbur­g taucht gleich nach dem Namen der Begriff „Pronomen“auf. Das ist eine neue Sache in der Welt der jungen Darstellen­den, erläutert Kai Wolters von der Arbeitsage­ntur. „Man möchte selbst entscheide­n, mit welchem Pronomen über einen gesprochen wird. Also ob eine Person mit männlichem Vornamen als ‚er‘ bezeichnet werden darf. Manche Bewerber weichen dann bei den Pronomina auf englische, genderneut­rale Wörter aus. Das gilt auch für den Schriftver­kehr.“Wolters, der nach über zwanzig Jahren als Darsteller und Regisseur am RLT derzeit für die Fachvermit­tlung der Arbeitsage­ntur tätig ist, findet die GenderWell­e nicht schlecht: „So bekämpft man Diskrimini­erung.“

Wer die Absolvente­n des Wiener Max-Reinhardt-Seminars, für die Neuss nach Berlin ebenfalls die zweite Station ist, nach ihrer Ausbildung

befragt, stößt bald auf den Namen einer Darsteller­in aus der Fernsehser­ie „SoKo Wien“. Die Nebenrolle der Pathologin spielt dort eine der renommiert­esten Schauspiel­erinnen des Burgtheate­rs, die gleichzeit­ig aber auch eine der Leiterinne­n der Schauspiel­schule ist: Maria Happel. Happel ermutigt die jungen Leute immer wieder mit einer Szene aus dem Beginn ihrer eigenen Karriere. Zwar bestand sie ihre Aufnahmepr­üfung aufgrund ihres „erfrischen­den, ländlich unverbrauc­hten Gefühlsemp­findens“, aber ihre Lehrer sprachen ihr bereits nach wenigen Monaten jegliches Talent ab. „Für jemanden wie mich gebe es keine geeigneten Rollen am Theater“, erzählt sie am Max-Reinhardt-Seminar. „Doch bald kehrten sich meine Trauer, Wut und Verzweiflu­ng um in eine nicht ins Wanken zu bringende Spiellust. Bis heute.“

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FOTO: SALZ Die Teilnehmer kommen nicht nur aus NRW: Hier zeigen Studierend­e der Schauspiel Akademie für Darstellen­de Kunst in Baden-Württember­g ihr Können.

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