Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Schlachten und Strategien
Nach der Einnahme von Cherson steht die ukrainische Militärführung vor der schwierigen Entscheidung: Großoffensive oder viele kleine Gefechte?
CHERSON/LUHANSK (dpa) Das russische Verteidigungsministerium hat am Freitag die Einnahme der Ortschaft Opytne nur wenige Kilometer nördlich von Donezk vermeldet. Da die Front dort seit 2014 verläuft, sind die Stellungen auf beiden Seiten gut ausgebaut, Geländegewinne entsprechend klein und mit hohen Verlusten verbunden. Nichtsdestotrotz versucht die russische Seite auch an anderer Stelle in der Region, die Initiative an sich zu reißen. Kremlchef Wladimir Putin habe den Rückzug aus Cherson hinter den Fluss Dnipro nur unter der Bedingung erlaubt, im Gegenzug dafür das gesamte Gebiet Donezk zu erobern, mutmaßen die Experten des InstitutefortheStudyofWar(ISW) in Washington.
Die durch den Abzug aus Cherson frei gewordenen Kräfte hat Russland teilweise bereits in die Ostukraine verlegt, um dort die Angriffe zu verstärken. Neben den Kämpfen vor Donezk versuchen die Russen auch im Norden den Verteidigungsriegel um das Ballungsgebiet zwischen Slowjansk und Kramatorsk zu knacken. Im Süden wollen sie bei Wuhledar die Front aufrollen. Dort ist ihnen mit der Einnahme der
Ortschaft Pawliwka aber womöglich nur ein Pyrrhussieg gelungen. Der russische Feldkommandeur Alexander Chodakowski klagte über hohe Verluste und nannte die Offensive verfrüht.
Doch Moskau geht es wohl darum, ukrainische Kräfte in der Verteidigung zu binden und Kiew seine Art der Kriegsführung aufzuzwingen. Diese zielt auf Abnutzung des Gegners – wie es monatelang im Donbass mit der Zerstörungswut der russischen Artillerie geschah – inklusive der Raketenangriffe auf die Energieversorgung, um die Bevölkerung kriegsmüde zu machen.
In kremlnahen Kreisen herrscht dem Vernehmen nach trotzdem Krisenstimmung: „Die Erkenntnis, dass wir den echten Krieg verloren haben, ist gekommen“, zitiert das Internetportal „Meduza“anonym aus Unternehmerkreisen. Das Momentum liegt klar aufseiten der ukrainischen Armee. Sie eroberte nach Berechnung von Militärbeobachtern inzwischen mehr als 50 Prozent des Territoriums zurück, das Russland nach dem Einmarsch am 24. Februar besetzt hatte.
Der ukrainische Generalstab um Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj steht nun vor der Frage, welche Schwachstelle der russischen Truppen er als nächstes angreifen lässt.
Auf das Überraschungsmoment vom Spätsommer, als die russische Militärführung die ukrainische arg unterschätzte, kann Kiew allerdings nicht mehr rechnen.
Wenn die ukrainische Führung eine Entscheidungsschlacht suchen sollte, gilt als wahrscheinlichste Stoßrichtung ein Vorstoß im Gebiet Saporischschja Richtung Süden auf das Asowsche Meer zu. Mit dem Vordringen zwischen der Kleinstadt Tokmak und dem Verkehrsknotenpunkt Polohy bis hin zur Hafenstadt Berdjansk könnte Kiew einen Keil zwischen die im Süden der Ukraine stationierten russischen Truppen treiben. Der Landkorridor zur 2014 annektierten Halbinsel Krim wäre unterbrochen.
Dabei muss die ukrainische Armee mit ihrer präzisen weitreichenden Artillerie nicht komplett bis zur Küste vordringen. Ausreichend wäre eine Frontverschiebung um gut 20 Kilometer nach Süden, um Feuerkontrolle bis zur Küste zu erlangen. Damit könnten die russischen Nachschublinien massiv gestört werden, die aus dem Donbass und von der Krim in die besetzten Teile der Gebiete Cherson und Saporischschja führen.
Die Vorbereitungen für einen solchen Angriff laufen: Russische Beobachter schätzen, dass bis zu 40.000 ukrainische Soldaten bereits in das Gebiet Saporischschja verlegt wurden – teilweise auch schon aus Cherson, wo die Truppen nicht mehr gebraucht werden.
Allerdings birgt diese Entscheidungsschlacht für die Ukrainer auch gewaltige Risiken. Das russische Militär ist sich der strategischen Bedeutung Saporischschjas bewusst und hat sich ebenfalls vorbereitet. Truppen wurden verstärkt, erstmals in diesem Krieg haben die Russen auch schwere Verteidigungsstellungen ausgehoben.
Daher könnte auch Kiew auf Abwarten und Nadelstichattacken setzen, um den Gegner zu ermüden. Die Moral der russischen Truppen ist nach den Rückzügen angeschlagen. Weitere Niederlagen könnten den Zersetzungsprozess beschleunigen.