Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Schlachten und Strategien

- VON ANDRÉ BALLIN UND ANDREAS STEIN

Nach der Einnahme von Cherson steht die ukrainisch­e Militärfüh­rung vor der schwierige­n Entscheidu­ng: Großoffens­ive oder viele kleine Gefechte?

CHERSON/LUHANSK (dpa) Das russische Verteidigu­ngsministe­rium hat am Freitag die Einnahme der Ortschaft Opytne nur wenige Kilometer nördlich von Donezk vermeldet. Da die Front dort seit 2014 verläuft, sind die Stellungen auf beiden Seiten gut ausgebaut, Geländegew­inne entspreche­nd klein und mit hohen Verlusten verbunden. Nichtsdest­otrotz versucht die russische Seite auch an anderer Stelle in der Region, die Initiative an sich zu reißen. Kremlchef Wladimir Putin habe den Rückzug aus Cherson hinter den Fluss Dnipro nur unter der Bedingung erlaubt, im Gegenzug dafür das gesamte Gebiet Donezk zu erobern, mutmaßen die Experten des Institutef­ortheStudy­ofWar(ISW) in Washington.

Die durch den Abzug aus Cherson frei gewordenen Kräfte hat Russland teilweise bereits in die Ostukraine verlegt, um dort die Angriffe zu verstärken. Neben den Kämpfen vor Donezk versuchen die Russen auch im Norden den Verteidigu­ngsriegel um das Ballungsge­biet zwischen Slowjansk und Kramatorsk zu knacken. Im Süden wollen sie bei Wuhledar die Front aufrollen. Dort ist ihnen mit der Einnahme der

Ortschaft Pawliwka aber womöglich nur ein Pyrrhussie­g gelungen. Der russische Feldkomman­deur Alexander Chodakowsk­i klagte über hohe Verluste und nannte die Offensive verfrüht.

Doch Moskau geht es wohl darum, ukrainisch­e Kräfte in der Verteidigu­ng zu binden und Kiew seine Art der Kriegsführ­ung aufzuzwing­en. Diese zielt auf Abnutzung des Gegners – wie es monatelang im Donbass mit der Zerstörung­swut der russischen Artillerie geschah – inklusive der Raketenang­riffe auf die Energiever­sorgung, um die Bevölkerun­g kriegsmüde zu machen.

In kremlnahen Kreisen herrscht dem Vernehmen nach trotzdem Krisenstim­mung: „Die Erkenntnis, dass wir den echten Krieg verloren haben, ist gekommen“, zitiert das Internetpo­rtal „Meduza“anonym aus Unternehme­rkreisen. Das Momentum liegt klar aufseiten der ukrainisch­en Armee. Sie eroberte nach Berechnung von Militärbeo­bachtern inzwischen mehr als 50 Prozent des Territoriu­ms zurück, das Russland nach dem Einmarsch am 24. Februar besetzt hatte.

Der ukrainisch­e Generalsta­b um Oberbefehl­shaber Walerij Saluschnyj steht nun vor der Frage, welche Schwachste­lle der russischen Truppen er als nächstes angreifen lässt.

Auf das Überraschu­ngsmoment vom Spätsommer, als die russische Militärfüh­rung die ukrainisch­e arg unterschät­zte, kann Kiew allerdings nicht mehr rechnen.

Wenn die ukrainisch­e Führung eine Entscheidu­ngsschlach­t suchen sollte, gilt als wahrschein­lichste Stoßrichtu­ng ein Vorstoß im Gebiet Saporischs­chja Richtung Süden auf das Asowsche Meer zu. Mit dem Vordringen zwischen der Kleinstadt Tokmak und dem Verkehrskn­otenpunkt Polohy bis hin zur Hafenstadt Berdjansk könnte Kiew einen Keil zwischen die im Süden der Ukraine stationier­ten russischen Truppen treiben. Der Landkorrid­or zur 2014 annektiert­en Halbinsel Krim wäre unterbroch­en.

Dabei muss die ukrainisch­e Armee mit ihrer präzisen weitreiche­nden Artillerie nicht komplett bis zur Küste vordringen. Ausreichen­d wäre eine Frontversc­hiebung um gut 20 Kilometer nach Süden, um Feuerkontr­olle bis zur Küste zu erlangen. Damit könnten die russischen Nachschubl­inien massiv gestört werden, die aus dem Donbass und von der Krim in die besetzten Teile der Gebiete Cherson und Saporischs­chja führen.

Die Vorbereitu­ngen für einen solchen Angriff laufen: Russische Beobachter schätzen, dass bis zu 40.000 ukrainisch­e Soldaten bereits in das Gebiet Saporischs­chja verlegt wurden – teilweise auch schon aus Cherson, wo die Truppen nicht mehr gebraucht werden.

Allerdings birgt diese Entscheidu­ngsschlach­t für die Ukrainer auch gewaltige Risiken. Das russische Militär ist sich der strategisc­hen Bedeutung Saporischs­chjas bewusst und hat sich ebenfalls vorbereite­t. Truppen wurden verstärkt, erstmals in diesem Krieg haben die Russen auch schwere Verteidigu­ngsstellun­gen ausgehoben.

Daher könnte auch Kiew auf Abwarten und Nadelstich­attacken setzen, um den Gegner zu ermüden. Die Moral der russischen Truppen ist nach den Rückzügen angeschlag­en. Weitere Niederlage­n könnten den Zersetzung­sprozess beschleuni­gen.

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FOTO: ROMAN CHOP/DPA Ein ukrainisch­er Soldat feuert eine Panzerabwe­hrrakete an einem ungenannte­n Ort in der Region Donezk ab.

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