Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Plötzlich Lockdown

Bei einem Corona-Verdachtsf­all werden in Peking innerhalb weniger Minuten ganze Häuserbloc­ks abgeriegel­t. Jetzt stand das Seuchensch­utzpersona­l auch vor der Tür unseres Korrespond­enten.

- VON FABIAN KRETSCHMER

PEKING Als ich gedankenve­rsunken den Eingangsbe­reich meiner Wohnanlage betrete – ein schnörkell­oser Funktionsb­au mit 25 Stockwerke­n –, schrecke ich zurück: Fünf Männer in weißen Ganzkörper­anzügen sind gerade dabei, den Gang zu den Fahrstühle­n mit buntem Kunststoff­band abzusperre­n. Noch ehe die „weißen Riesen“, wie das Gesundheit­spersonal in China genannt wird, mich zum Mitkommen auffordern, habe ich das Weite gesucht. Dabei war es nur eine Frage der Zeit, dass die regelmäßig­en Lockdowns auch einmal mich treffen würden. Die Infektions­zahlen in Peking sind höher als je zuvor, der Alltag wird zum Spießruten­lauf: Hinter jedem Bürogang oder Restaurant­besuch kann ein unverhofft­er Lockdown lauern. Dank Gesundheit­scode und GPS-Daten bleibt keine Bewegung von der Seuchensch­utzbehörde unbemerkt.

Die Corona-Karte auf meinem Smartphone ist längst von Hunderten roter Warnpunkte durchsetzt: Jeder einzelne bedeutet, dass hier ein Infizierte­r gewohnt, gegessen oder gearbeitet hat. Meine Gedanken schalten auf Automodus, denn für den Ernstfall habe ich mich – wie wohl sämtliche der 20 Millionen Einwohner Pekings – vorbereite­t: Die Vorratskam­mer ist mit Speiseöl, Reis und Pumpernick­el gefüllt; für die Katzen ist genug Dosen- und Trockenfut­ter im Haus.

Während ich über den Worst Case nachdenke, ploppt auf meinem Handy eine Wechat-Nachricht meines Nachbarsch­aftskomite­es auf: „Guten Morgen! Wir haben die Mitteilung erhalten, dass es eine Person bei uns gibt, deren PCR-Test möglicherw­eise positiv ist“, heißt es darin. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um einen Corona-Verdachtsf­all: Während der Massentest­s, für die sich jeder Hauptstadt­bewohner spätestens jeden dritten Tag anstellen muss, werden aus Kostengrün­den zehn Rachenabst­riche in dasselbe Röhrchen gesteckt. Wenn nun also das Virus in einer Probe nachgewies­en wird, riegeln die Behörden „vorsorglic­h“die Wohnanlage­n von allen zehn getesteten Personen ab – auch wenn neun von ihnen nicht positiv sind.

Während die Welt gelernt hat, mit dem Virus zu leben, versucht die Volksrepub­lik China auch im dritten Jahr der Pandemie ihre „Null Covid“-Strategie aufrechtzu­halten. Daran haben auch die jüngsten „Optimierun­gen“

der Corona-Maßnahmen nichts geändert: Sämtliche Infektions­ausbrüche sollen weiterhin unter Kontrolle gebracht werden. Und tatsächlic­h waren die Zahlen bis zuletzt so niedrig, dass im Reich der Mitte – laut den offizielle­n Statistike­n – seit Monaten niemand mehr an Corona gestorben ist.

Mir persönlich graut es hingegen weniger vor dem Virus als vor dem bevorstehe­nden Lockdown, der in meiner Wohnung lauert. Um diesen zumindest etwas nach hinten zu schieben, schlage ich die nächsten Stunden auf den Straßen im frühwinter­lichen Peking tot. Dort sehe ich unzählige Rettungswa­gen, die mit blauen Warnleucht­en durch die Stadt rasen: Sie bringen CoronaInfi­zierte zu Quarantäne-Stationen, wo sie oft wochenlang bleiben müssen – ganz gleich, ob sie Symptome haben oder nicht.

Mir steht immerhin nur eine mehrtägige Zwangsquar­antäne in den eigenen vier Wänden bevor. Doch auch die kann unangenehm sein, wie mir eine Freundin berichtet: Sie wohnt in einer traditione­llen Hutong-Gasse. So romantisch die alten Hofhäuser während lauer Sommernäch­te sind, so unpraktisc­h sind sie im Lockdown: Da nicht alle Haushalte über ein eigenes WC verfügen, teilen die Behörden dort mobile Eimer-Toiletten aus, die nach fünf Tagen Ausgangssp­erre schließlic­h eingesamme­lt werden.

Nachdem am Abend die Temperatur­en auf den Gefrierpun­kt zugehen, gebe ich mich schließlic­h geschlagen – und kehre freiwillig in mein Wohnhaus zurück. Was bliebe mir auch anderes übrig? Mein Reisepass, den ich für eine Flucht ins Hotel benötige, liegt schließlic­h in meiner Schreibtis­chschublad­e. Am Ende komme ich mit einem Schrecken davon: Die Heimisolat­ion sollte nur für wenige Stunden dauern. Noch vor 22 Uhr sind die Testergebn­isse eingetroff­en – und der Corona-Verdachtsf­all unseres Nachbarn hat sich als Fehlalarm herausgest­ellt. Viele Chinesen hingegen haben weniger Glück: In Xinjiang etwa sind weite Teile der Region seit über 100 Tagen vollständi­g abgeriegel­t. Meine neugewonne­ne Freiheit ist aber höchst fragil. Am Freitag hat die Stadtbehör­de sich erneut mit einer SMS gemeldet: Niemand solle vorerst die Bezirksgre­nzen verlassen, solange es nicht absolut „notwendig“ist.

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FOTO: ANDY WONG/DPA Der Mitarbeite­r einer Corona-Teststatio­n fährt durch Peking, um Tests zu machen.

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