Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Plötzlich Lockdown
Bei einem Corona-Verdachtsfall werden in Peking innerhalb weniger Minuten ganze Häuserblocks abgeriegelt. Jetzt stand das Seuchenschutzpersonal auch vor der Tür unseres Korrespondenten.
PEKING Als ich gedankenversunken den Eingangsbereich meiner Wohnanlage betrete – ein schnörkelloser Funktionsbau mit 25 Stockwerken –, schrecke ich zurück: Fünf Männer in weißen Ganzkörperanzügen sind gerade dabei, den Gang zu den Fahrstühlen mit buntem Kunststoffband abzusperren. Noch ehe die „weißen Riesen“, wie das Gesundheitspersonal in China genannt wird, mich zum Mitkommen auffordern, habe ich das Weite gesucht. Dabei war es nur eine Frage der Zeit, dass die regelmäßigen Lockdowns auch einmal mich treffen würden. Die Infektionszahlen in Peking sind höher als je zuvor, der Alltag wird zum Spießrutenlauf: Hinter jedem Bürogang oder Restaurantbesuch kann ein unverhoffter Lockdown lauern. Dank Gesundheitscode und GPS-Daten bleibt keine Bewegung von der Seuchenschutzbehörde unbemerkt.
Die Corona-Karte auf meinem Smartphone ist längst von Hunderten roter Warnpunkte durchsetzt: Jeder einzelne bedeutet, dass hier ein Infizierter gewohnt, gegessen oder gearbeitet hat. Meine Gedanken schalten auf Automodus, denn für den Ernstfall habe ich mich – wie wohl sämtliche der 20 Millionen Einwohner Pekings – vorbereitet: Die Vorratskammer ist mit Speiseöl, Reis und Pumpernickel gefüllt; für die Katzen ist genug Dosen- und Trockenfutter im Haus.
Während ich über den Worst Case nachdenke, ploppt auf meinem Handy eine Wechat-Nachricht meines Nachbarschaftskomitees auf: „Guten Morgen! Wir haben die Mitteilung erhalten, dass es eine Person bei uns gibt, deren PCR-Test möglicherweise positiv ist“, heißt es darin. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um einen Corona-Verdachtsfall: Während der Massentests, für die sich jeder Hauptstadtbewohner spätestens jeden dritten Tag anstellen muss, werden aus Kostengründen zehn Rachenabstriche in dasselbe Röhrchen gesteckt. Wenn nun also das Virus in einer Probe nachgewiesen wird, riegeln die Behörden „vorsorglich“die Wohnanlagen von allen zehn getesteten Personen ab – auch wenn neun von ihnen nicht positiv sind.
Während die Welt gelernt hat, mit dem Virus zu leben, versucht die Volksrepublik China auch im dritten Jahr der Pandemie ihre „Null Covid“-Strategie aufrechtzuhalten. Daran haben auch die jüngsten „Optimierungen“
der Corona-Maßnahmen nichts geändert: Sämtliche Infektionsausbrüche sollen weiterhin unter Kontrolle gebracht werden. Und tatsächlich waren die Zahlen bis zuletzt so niedrig, dass im Reich der Mitte – laut den offiziellen Statistiken – seit Monaten niemand mehr an Corona gestorben ist.
Mir persönlich graut es hingegen weniger vor dem Virus als vor dem bevorstehenden Lockdown, der in meiner Wohnung lauert. Um diesen zumindest etwas nach hinten zu schieben, schlage ich die nächsten Stunden auf den Straßen im frühwinterlichen Peking tot. Dort sehe ich unzählige Rettungswagen, die mit blauen Warnleuchten durch die Stadt rasen: Sie bringen CoronaInfizierte zu Quarantäne-Stationen, wo sie oft wochenlang bleiben müssen – ganz gleich, ob sie Symptome haben oder nicht.
Mir steht immerhin nur eine mehrtägige Zwangsquarantäne in den eigenen vier Wänden bevor. Doch auch die kann unangenehm sein, wie mir eine Freundin berichtet: Sie wohnt in einer traditionellen Hutong-Gasse. So romantisch die alten Hofhäuser während lauer Sommernächte sind, so unpraktisch sind sie im Lockdown: Da nicht alle Haushalte über ein eigenes WC verfügen, teilen die Behörden dort mobile Eimer-Toiletten aus, die nach fünf Tagen Ausgangssperre schließlich eingesammelt werden.
Nachdem am Abend die Temperaturen auf den Gefrierpunkt zugehen, gebe ich mich schließlich geschlagen – und kehre freiwillig in mein Wohnhaus zurück. Was bliebe mir auch anderes übrig? Mein Reisepass, den ich für eine Flucht ins Hotel benötige, liegt schließlich in meiner Schreibtischschublade. Am Ende komme ich mit einem Schrecken davon: Die Heimisolation sollte nur für wenige Stunden dauern. Noch vor 22 Uhr sind die Testergebnisse eingetroffen – und der Corona-Verdachtsfall unseres Nachbarn hat sich als Fehlalarm herausgestellt. Viele Chinesen hingegen haben weniger Glück: In Xinjiang etwa sind weite Teile der Region seit über 100 Tagen vollständig abgeriegelt. Meine neugewonnene Freiheit ist aber höchst fragil. Am Freitag hat die Stadtbehörde sich erneut mit einer SMS gemeldet: Niemand solle vorerst die Bezirksgrenzen verlassen, solange es nicht absolut „notwendig“ist.