Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Hansi Flick weiß, wie Erfolg geht“

Der frühere Bundestrai­ner über die deutschen WM-Chancen, seine Topfavorit­en und eine Erlaubnis zur Vorfreude.

- DAS INTERVIEW FÜHRTE KARSTEN KELLERMANN

Herr Klinsmann, wie wird man Weltmeiste­r?

KLINSMANN (lacht) Darüber könnte man einen Vortrag über fünf Stunden halten. In aller Kürze kann man sagen: Es muss alles passen bei einem Turnier. Fußballeri­sch, menschlich, das Timing, der Erfolgshun­ger – alle Komponente­n müssen zum richtigen Zeitpunkt zusammenko­mmen. Es ist ein einzigarti­ger Moment, und ich glaube, wenn man eine WM zwei Monate später nochmal spielt, hat man einen anderen Weltmeiste­r.

Kann die deutsche Nationalma­nnschaft in Katar Weltmeiste­r werden?

KLINSMANN Es kommen verschiede­ne Komponente­n zum Tragen: Wo steht die Mannschaft in ihrem Entwicklun­gsprozess? Hat sie die Leidensfäh­igkeit, die nötig ist für den Titel? Gibt es in der Gruppe die richtige Hierarchie? Aber grundsätzl­ich hat jede deutsche Mannschaft, die zu einer WM fährt, das Potenzial, den Titel zu holen. Denn wir gehören qualitativ einfach zu den besten Fußball-Nationen.

Ein Faktor, der bei den vier WMTriumphe­n des DFB-Teams wichtig war, war der der Turnierman­nschaft. Hat das Team von Hansi Flick diese Eigenschaf­t? KLINSMANN Das denke ich schon. Es gehört zu unserer DNA, uns in solche Turniere reinsteige­rn zu können und auf den Moment hin fokussiert zu sein. Das klappt nicht immer, siehe zuletzt in Russland – aber da sind wir vier Jahre vorher auch Weltmeiste­r geworden. Da war ein Höhepunkt erreicht. Aber jede deutsche Mannschaft hat die Gabe, von Spiel zu Spiel zu wachsen. Das ist einfach in uns drin.

Welche Rolle spielt der Bundestrai­ner bei so einem Turnier. Hansi Flick hat als Vereinstra­iner alles gewonnen – vor allem auch die Champions League coronabedi­ngt im Turniermod­us. Hilft ihm dass nun bei seiner ersten WM? KLINSMANN Hansi hat das ja nicht nur mit den Bayern in der Champions League erlebt. Er hat mit Jogi Löw bei Welt- und Europameis­terschafte­n erfolgreic­h gearbeitet, er wird mit dem Turniermod­us keine Probleme haben. Es gibt der Mannschaft auch Sicherheit, wenn sie weiß, dass der Chef, der da vorangeht, diese Erfahrunge­n schon gemacht hat. Hansi weiß, dass er eine große Verantwort­ung hat. Wichtig ist, dass er das Energiefel­d für das Team immer wieder einpegelt: Ist die Spannung zu hoch, muss er sie runterschr­auben, ist sie zu gering, muss er anziehen. Aber als Trainer bist du bei dem Turnier nah dran an den Spielern und bekommst jede Tendenz sofort mit. Ich mache mir da aber keine Gedanken, was Hansi angeht: Er hat alles erlebt und weiß, wie Erfolg geht. Vielmehr kommt es auf die Mannschaft selbst an: Ist sie schon bereit für den großen Wurf?

Was sagen Sie?

KLINSMANN Man darf nicht vergessen, dass dieses Turnier unter ganz anderen Voraussetz­ungen gespielt wird, als jemals zuvor. Er gibt nur eine Woche Vorbereitu­ng, es wird im Winter gespielt, mitten in der Saison und erstmals im Mittleren Osten. Ich bin gespannt, wie die deutsche Mannschaft damit umgehen wird. Die große Herausford­erung ist es, die Situation anzunehmen, nicht zu hadern, sondern einfach den Rhythmus aus der Liga einzubring­en und das Ding durchzuzie­hen. Es ist eine spannende Konstellat­ion,

mit der aber alle 32 Teilnehmer umgehen müssen.

Kann die Konstellat­ion ein Vorteil für die Engländer sein? Die kennen die Dauerbelas­tung auch zu dieser Jahreszeit aus der Premier League. KLINSMANN Sicherlich sind es die Engländer gewohnt, permanent viele Spiele zu haben. Aber auch die deutschen Top-Teams hatten in den vergangene­n Wochen eine Wahnsinnsb­elastung und kennen das. Da sehe ich kein Team im Vorteil. Es geht darum, den Hebel umzulegen und schnell den Rhythmus für das Turnier zu finden. Das könnte sogar unserem Team entgegenko­mmen, weil wir mit einem großen Bayern-Block kommen. Gerade in so einer Konstellat­ion kann eine Blockbildu­ng ein großer Vorteil sein, weil die Spieler eingespiel­t sind und das Feingefühl da ist ohne großes Training.

Könnte es aufgrund der Konstellat­ion eine WM mit großem Überraschu­ngspotenzi­al sein? KLINSMANN Ja, das kann durchaus sein. Es ist ja immer die Frage, ob wirklich mal ein afrikanisc­hes Land über das Viertelfin­ale hinauskomm­t und so für eine Überraschu­ng sorgen kann. Der Afrika-Cup ist ja auch im Januar, die Spieler sind es gewohnt, im Winter ein Turnier zu spielen. Auch die Länder, bei denen es eine Jahressais­on gibt, könnten davon profitiere­n. Die USA, Südkorea, und auch Japan zum Beispiel. Grundsätzl­ich freue ich mich auf Überraschu­ngen. Es muss ja nicht gerade gegen unser Team sein.

Das für Sie zum engeren Favoritenk­reis gehört?

KLINSMANN Natürlich. Da sind ja immer die üblichen Verdächtig­en, die erstmal in Frage kommen für den Titel. Frankreich, Spanien, England,

Deutschlan­d und Portugal – das für mich ein Geheimfavo­rit ist. Dazu kommen die zwei Mega-Kaliber Brasilien und Argentinie­n, die für mich die Top-Anwärter auf den Titel sind. Beide haben eine herausrage­nde Qualifikat­ion gespielt und enormen Hunger auf diese WM, sie wollen um jeden Preis den Titel. Brasilien hat sicher die Mannschaft mit der größten Breite, und Brasilien kann uns schon im Viertelfin­ale drohen. Das wäre eine harte Nuss, die Brasiliane­r wollen unbedingt die Revanche für das 1:7 im Halbfinale von 2014.

Was erwarten Sie an fußballeri­schen Innovation­en von der WM? KLINSMANN Die meisten Nationalma­nnschaften werden ihren Stil beibehalte­n. Die Trainer haben wenig Zeit, mit ihren Mannschaft­en etwas Neues zu erarbeiten, sie werden auf bewährte Abläufe setzen. Es wird darum sehr auf die individuel­len Qualitäten ankommen, auf die Spielerper­sönlichkei­ten. Ich bin sehr gespannt, ob sich Ronaldo oder

Messi doch noch die Krone aufsetzen können. Oder ob da ein junger Spieler ist, der auftrumpft.

Zum Beispiel Jamal Musiala? KLINSMANN Es wird spannend sein zu beobachten, ob er sich auf der Weltbühne schon so durchsetze­n kann. Er hat großartige Anlagen. Und wenn er die Lockerheit und die Leichtigke­it zeigt, die er beim FC Bayern an den Tag legt, ist viel möglich für ihn. Man darf ihm aber deswegen keinen Druck machen. Gespannt bin ich auf die Führungsro­lle von Joshua Kimmich. In Russland und bei der EM hat er unter dem frühen Ausscheide­n gelitten, darum wünsche ich mir für ihn, dass er der WM den Stempel aufdrücken kann. Er hat das Zeug dazu, er spielt bei den Bayern auf Weltklasse­niveau, und es wäre toll, wenn er das nun auch bei einem großen Turnier tut. Insgesamt sollte unsere Mannschaft ganz unbekümmer­t in die WM reingehen.

Sie sind für die BBC vor Ort als Experte. Wie ist in England die Akzeptanz der WM?

KLINSMANN Die Erwartungs­haltung in England ist, Weltmeiste­r zu werden. Da ist Trainer Gareth Southgate nicht zu beneiden. Für die Leute ist es eine logische Schlussfol­gerung nach dem WM-Halbfinale 2018 und dem Endspiel bei der EM 2021. Da konnten es die Engländer gar nicht fassen, dass es gegen Italien nicht geklappt hat. Und dann ist da die Vormachtst­ellung der Premier League. Daraus leiten die Engländer ihren Titelhunge­r ab. Und sie haben das Team dafür. Aber sie müssen es eben umsetzen.

Angesichts des Gesamtkont­extes der WM mit der Situation in Katar – darf man sich auf die WM überhaupt freuen?

KLINSMANN Man darf sich auf jede WM freuen. Die Diskussion um Katar hätte man viel früher führen müssen. Jetzt sollte man Katar einfach die Chance geben, die WM umzusetzen. Das haben sie verdient, und es ist das erste Mal, dass eine WM in der Region stattfinde­t. Die Stadien sind erstklassi­g, die Spiele werden top sein, da bin ich mir sicher.

„Ihre“WM 2006 in Deutschlan­d und die nun in Katar könnten nicht weiter auseinande­rliegen, was die Emotionen der Fans angeht.

KLINSMANN Für uns war die Nähe zu den Fans damals sehr wichtig für die WM. Das hat uns viel Energie gegeben. Jetzt ist die Konstellat­ion ganz anders. Keiner weiß so richtig, wie das für die Fans sein wird. Die Mannschaft muss sich aber ohnehin extrem auf den Fußball konzentrie­ren, weil das Turnier eine sehr große Belastung sein wird.

Was für eine Stimmung darf man erwarten?

KLINSMANN Ich war beim Arab-Cup im vergangene­n Jahr eingebunde­n und habe die Spiele mit Arsene Wenger für die Fifa analysiert. Die Stimmung in den Stadien war fantastisc­h. Die Stadien werden beben, es wird eine Riesenstim­mung herrschen. Und es wird in Doha auch Fan-Festivals geben – aber eben auf andere Art. Dass die Fans in Deutschlan­d mit einer ungewohnte­n Stimmung in das Turnier gehen, ist klar, wir sind es gewohnt, diese Fußballfes­te im Sommer zu feiern. Wir sollten einfach dem Ganzen eine Chance geben und hoffen, dass uns die Mannschaft mit tollem Fußball mitreißt.

 ?? FOTO: WINFRIED MAUSOLF/IMAGO ?? „Es gehört zu unserer DNA, uns in solche Turniere reinsteige­rn zu könnenn“, sagt der frühere Bundestrai­ner Jürgen Klinsmann.
FOTO: WINFRIED MAUSOLF/IMAGO „Es gehört zu unserer DNA, uns in solche Turniere reinsteige­rn zu könnenn“, sagt der frühere Bundestrai­ner Jürgen Klinsmann.

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