Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Augustinus-Gruppe: Lebenshilfe statt Sterbehilfe
Sterbewünsche zwischen Autonomie und Lebensschutz: Die Neusser St.-Augustinus-Gruppe mit knapp 6000 Mitarbeitern legt Positionspapier zum Assistierten Suizid vor.
NEUSS Die St.-Augustinus-Gruppe, zu der unter anderem das Johanna-Etiennesowie das St.-Alexius-/ St.-Josef-Krankenhaus in Neuss gehören, geht in Fragen des sogenannten Assistierten Suizids einen eigenständigen Sonderweg. „Wir leisten keine Sterbehilfe“, sagt Franz-Josef Esser (63). Der Vorsitzende des hausinternen Ethikkomitees sagt aber auch: „Wir lassen Sterbewillige nicht allein.“
Was auf den ersten Blick als entschiedene Sowohl-als-auch-Haltung daherkommt, will Esser als „starke, unabhängige Position“verstanden wissen, für die er harsche Kritik erwartet: „Den Konservativen werden wir zu liberal sein, den Liberalen zu konservativ.“
Die Kernbotschaft des jetzt vorgelegten, 16 Seiten starken Positionspapiers, lautet: „Wir beteiligen uns weder an der Durchführung noch an der konkreten Organisation von Suizidassistenz.“Auch die Mitarbeitenden dürfen bei Selbsttötungen nicht aktiv mitwirken. So weit, so klar. Der Knackpunkt zeigt sich, wenn es zu einem Assistierten Suizid in einem privaten Wohnraum der Augustinus-Einrichtungen kommen sollte. Auch dann werde man dem Bewohner weiter mit Fürsorge und Zuwendung beistehen. Esser:
„Beistehen bedeutet dann eine liebevolle Sterbebegleitung. Genauso, wie wir uns das bei jedem Menschen in seiner letzten Lebensphase wünschen.“
Nach Ansicht von Franz-Josef Esser und seiner Kollegin aus dem Ethikkomitee, Heidrun Lundie (60), gibt diese eindeutige Positionierung der St.-Augustinus-Gruppe den knapp 6000 Mitarbeitenden eine starke Orientierung in einer schwierigen Gewissensfrage, die seit zweieinhalb Jahren mehr oder weniger in einem rechtsfreien Raum unbeantwortet bleibe. Im Februar 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem sogenannten Aschermittwoch-Urteil das Verbot der kommerziellen Sterbehilfe gekippt und dem Gesetzgeber aufgetragen, eine Neuregelung für das selbstbestimmte Sterben als Ausdruck persönlicher Autonomie zu schaffen. Seither wird um ein neues Gesetz gerungen. Derweil liegen drei Anträge im Bundestag vor, deren Initiatoren jeweils aus mehreren Fraktionen stammen.
Die St.-Augustinus-Gruppe als katholischer Träger in den Bereichen Behindertenhilfe, Psychiatrie, Seniorenhilfe
und Somatik leite ihre lebensbejahende Grundhaltung, so Esser und Lundie unisono, aus einer „klaren christlich geprägten“Wertebasis ab. Betroffene, die suizidale Gedanken oder einen Sterbewunsch hegen, werden angesprochen. „Wir wollen diesen Wunsch ernstnehmen, ansprechen, respektieren und wertschätzen“, sagt das Duo und verweist auf „unsere Angebote zur (palliativ-)medizinischen und pflegerischen sowie psychotherapeutischen Versorgung, zur seelsorgerichen Begleitung und zur Teilhabe am sozialen Leben über unsere Sozialdienste und über regionale Netzwerke“.
Auch wenn Esser und Lundie auf kritische Reaktionen eingestellt sind, zunächst gab‘s erst einmal Lob, Dank und Anerkennung. Hermann Gröhe (61), Neusser Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Bundesgesundheitsminister, unterstützt die Forderung, Angebote zur Vermeidung von Selbsttötungen auszubauen. Er werde sich dafür im Bundestag weiterhin einsetzen. Das Positionspapier sei wichtig und richtig: „Dass die St.-AugustinusGruppe keine Angebote zur Selbsttötungshilfe in ihren Einrichtungen macht und auch ihre Mitarbeitenden sich daran nicht beteiligen dürfen, zeigt eine lebensbejahende Grundüberzeugung. Danke dafür!“
Die Verantwortlichen der St.-Augustinus-Gruppe, der größte Anbieter von medizinischen und sozialen Dienstleistungen am Niederrhein, wissen aus Erfahrung, dass ein Sterbewunsch nicht dauerhaft besteht, sondern „ambivalent“verlaufe. Auf ein Stimmungstief folge oftmals wieder ein Stimmungshoch. Gröhe fordert zudem, dass Menschen, deren Selbsttötungswunsch auf einer seelischen Erkrankung oder einer akuten Krise beruht, geschützt werden. Selbsttötungshilfe dürfe nicht zu einer „normalen Form“der Lebensbeendigung werden, zu einer gleichsam üblichen Alternative zur medizinischen, auch zur palliativmedizinischen Versorgung.
Wenn ihr Positionspapier zum Assistierten Suizid im Trauermonat
November veröffentlicht werde, sei das zwar nicht geplant, aber durchaus wünschenswert, sagen Esser und Lundie. Letztlich sei es, so Esser, auch ein Beitrag, Sterben und Tod aus einer Tabuzone zu holen: „Der Tod gehört zum Leben.“Und Lundie wünscht sich, „dass am Ende mehr Menschen rechtzeitig verbindlich erklären, was ihr Wille mit Blick auf ihre letzte Lebensphase ist.“