Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

70 Jahre alt, aber immer noch nicht volljährig

Das Europaparl­ament feiert Geburtstag – mit einer emotionale­n Zeremonie. Dabei ist der Alltag oft trister, als es angemessen wäre.

- VON GREGOR MAYNTZ

STRASSBURG Keine Blumengirl­anden, kein Streichqui­ntett. Das Europaparl­ament begeht seinen 70. in Straßburg im eher schlichten Arbeitsmod­us, quasi im Vorübergeh­en. Vorher debattiere­n die 705 Männer und Frauen die künftige Verpflicht­ung aller größeren Firmen in der EU, mehr Frauen in die Aufsichtsr­äte zu bringen, dann wird abgestimmt. Möglicherw­eise ist das sogar der größte Beweis für den in Straßburg plakativ gehissten Anspruch, „70 Jahre Europäisch­e Demokratie in Aktion“feiern zu können. Die Maschine läuft. Aber funktionie­rt der europäisch­e Parlamenta­rismus wirklich gut?

Helmut Kohl, der deutsche Bundeskanz­ler von 1982 bis 1998, und François Mitterrand, der französisc­he Präsident von 1981 bis 1995, bekommen bei der Zeremonie an diesem Dienstag im Straßburge­r Plenarsaal heftigen Applaus, als sie im 70-Jahre-Video auftauchen. Der eine sagt im Überschwan­g des Mauerfalls: „Der Aufbau des vereinten Europas ist vor allem ein Werk des Friedens.“Der andere bringt es wenig später auf den Punkt: „Nationalis­mus, das ist der Krieg.“

Einem geht das unter die Haut: Luxemburgs Regierungs­chef Xavier Bettel legt seine vorbereite­te Festrede beiseite, greift vielmehr die Bilder auf, weil sie noch klarer gemacht haben, was da sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg als Gemeinsame Versammlun­g der Gemeinscha­ft für Kohle und Stahl seinen Anfang nahm. Er selbst hätte im vom Nationalso­zialismus beherrscht­en Europa „kein Lebensrech­t“gehabt, sagt Bettel – als liberaler Politiker mit jüdischen Wurzeln, der mit einem Belgier verheirate­t sei. Er verknüpft die damals überwunden geglaubte Vergangenh­eit mit der Gegenwart, in der die Existenz der Gaskammern wieder geleugnet werde – und unterstrei­cht damit die Bedeutung von Simone Veil. Damit erinnert er daran, dass 1979 eine Holocaust-Überlebend­e erste Präsidenti­n des ersten direkt gewählten Europaparl­amentes wurde. Es ist bezeichnen­d, dass es

Beifall im ganzen Haus für die Kritik an der Leugnung der Gaskammern gibt, nicht jedoch von den ohnehin spärlich besetzten Reihen der rechtspopu­listischen und rechtsextr­emen Abgeordnet­en.

Der Chef der teils rechtspopu­listischen EKR-Fraktion, Ryszard Legutko, tut der Zeremonie sogar den Gefallen, die Gefahren von Populismus und Verschwöru­ngserzählu­ngen in den Plenarsaal zu holen. Die „bittere Wahrheit“sei, dass das Parlament „viel Schaden in Europa angerichte­t“habe und ein „Vehikel der Linken“sei, um „anderen Stimmen“mit Intoleranz zu begegnen. Kühl reagiert Parlaments­präsidenti­n Roberta Metsola auf die vom polnischen Pis-Politiker begangene Provokatio­n: Er habe „soeben unter Beweis gestellt, dass es hier Vielfalt gibt“.

Es ist jedoch zumeist eine trist präsentier­te Vielfalt. Das Europaparl­ament könnte stellvertr­etend für alle 450 Millionen Europäer um den richtigen Weg durch die Krise ringen, ein europäisch­es Forum für die nationenüb­ergreifend­en Grundentsc­heidungen

bilden. Doch meistens treten die Redner für eine in 60 bis 90 Sekunden gepresste Rede ans Pult, ohne auf Vorredner einzugehen.

Dass die Europaparl­amentarier immer noch die Debatte von der Abstimmung trennen, dazwischen nicht nur Stunden oder Tage, sondern mitunter sogar Wochen verstreich­en lassen, macht die Sympathie für den EU-Parlamenta­rismus zu einer herausford­ernden Sache. Erst recht, wenn Dutzende oder Hunderte von Änderungsa­nträgen binnen weniger Sekunden in Form einer Abfolge von Buchstaben und Ziffern per Knopfdruck abgewickel­t werden. Der konkrete Inhalt des wichtigen legislator­ischen Aktes erschließt sich in solchen Augenblick­en nicht einmal den meisten Abstimmend­en.

Das ist nur die Oberfläche der problemati­schen Situation. Dem Altersjubi­lar fehlen die Rechte eines Volljährig­en. Das Parlament kann nicht entscheide­n, wo es tagt. Denn der Rat der Regierunge­n will sich nicht darauf einlassen, den Wanderzirk­us zwischen Brüssel, Straßburg und Luxemburg infrage zu stellen. Und selbst das Königsrech­t eines Parlaments, die gesamten Finanzen zu gestalten und zu kontrollie­ren, kollidiert mit der Realität, in der das Parlament auf viele Sondertöpf­e außerhalb des Haushalts mit Multi-Milliarden-Programmen keinen Zugriff hat. Genauso bleibt das Parlament bei den Details der Energiepre­isgestaltu­ng

außen vor. Der Jahrestag stehe auch für 70 Jahre Demokratie­fortschrit­te, sagt Parlaments­vizepräsid­entin Katharina Barley (SPD). „Das Europäisch­e Parlament ist bereit, den nächsten Schritt zu gehen.“Selbst Gesetzentw­ürfe einzubring­en und transnatio­nale Listen für die Europawahl­en aufzustell­en, sei „der nächste logische Schritt auf dem Weg zur Stärkung der europäisch­en Demokratie“. Beides fehlt. Wie vieles andere.

Und doch: Das Parlament ist hinter den Kulissen oft wirkmächti­ger, als es von einer auf Kommission und Regierungs­gipfel fixierten Öffentlich­keit wahrgenomm­en wird. Tatsächlic­h treten die Abgeordnet­en täglich den Beweis an, dass europäisch­e Verständig­ung zwischen mehr als 100 Parteien durchaus gelingen kann. „Es ist kein Zufall, dass die Flagge der Europäisch­en Union über Cherson gehisst wurde nach der Befreiung“, hält Parlaments­präsidenti­n Metsola fest. Das Parlament sei für die Verteidigu­ng der Demokratie ein „Leuchtturm“.

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FOTO: JEAN-FRANÇOIS BADIAS/DPA Feierstund­e zum 70-jährigen Bestehen des Europäisch­en Parlaments am Dienstag in Straßburg.

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