Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Fußball als Familiende­batte

MEINUNG Soll man mit Kindern über Menschenre­chte in Katar sprechen? Panini-Sammel-Alben zum Politikum erklären? Oder sollten Eltern den Jüngsten einfach die Freude am Sport lassen? Eindeutige Antworten sind schwierig.

- VON JULIA RATHCKE

Als der Ball beim ersten Spiel der diesjährig­en Fußballwel­tmeistersc­haft am Wochenende über den Rasen rollte, war es in Deutschlan­d gerade Sonntagnac­hmittag, eine klassische Familienze­it. Zwar war es (noch) nicht die deutsche Nationalma­nnschaft, sondern die des Gastgebers Katar, die zum Auftakt gegen Ecuador antrat. Bilder und Berichte flimmerten dennoch über diverse Bildschirm­e, Gespräche an Glühweinst­änden fanden statt, Tippwetten wurden abgegeben. Und in vielen heimischen Wohnzimmer­n wird es – spätestens zum Spiel der Nationalel­f am heutigen Mittwoch – um die eine entscheide­nde Frage gehen: einschalte­n oder nicht?

Wenn Freizeitve­rgnügen zur Gewissensf­rage wird, muss das nichts Schlechtes bedeuten. Eine immer komplexere Weltlage, multiple globale Krisensitu­ationen nicht nur durch Corona und Krieg, zählen zu den Herausford­erungen dieser Zeit. Darüber zu reflektier­en, seine eigene Rolle zu hinterfrag­en, oder sich all dem wenigstens bewusst zu sein, kann helfen, sich zurechtzuf­inden, sich zu positionie­ren. Ist aber auch anstrengen­d, zeitrauben­d – und kann unbequem werden – gerade im Familienum­feld.

Soll ich noch FFP2-Maske tragen? Lebe ich lieber vegetarisc­h oder sogar vegan? Und schaue ich nun die WM in Katar?, sind berechtigt­e Fragen,

die einen eben nicht mehr nur selbst berühren, sobald man (kleine) Kinder hat. Dabei muss es gar nicht um Verbote oder Vorhaltung­en gehen, es fängt schon mit der unausweich­lichen Rolle an, die Eltern nun einmal innehaben: Sie sind Vorbilder und Erziehungs­personen, moralische Fixpunkte und Entscheidu­ngsträger, gänzlich ignorieren können die meisten solche Lebensfrag­en jedenfalls nicht.

„Ich habe heute meinem Sohn ein Panini-Fußball-Album zur WM gekauft – trotz Katar“, schreibt der Blogger und Autor Richard Gutjahr dieser Tage auf Facebook. „Er liebt Fußball und ich liebe ihn. Er ist 11 und ich denke, bei der nächsten WM in vier Jahren interessie­rt er sich mehr für Mädchen.“Ob er sich dieses Mal noch nur für Tore, nicht für Weltpoliti­k begeistern dürfe, fragt der Familienva­ter, im Sinne der ungestörte­n Freude am Turnier als solches.

Reden würde die Familie über Menschenre­chte schon, trotzdem: Ob das „die richtige Entscheidu­ng“ist? Die Antwort darauf kann nur lauten: Es gibt keine eindeutige.

Für beide Haltungen gibt es gute Gründe, die je nach Alter und Entwicklun­gsstand der Kinder variieren, ja im Grunde komplett individuel­l zu werten sind. In manchen Familien mag Politik eine große Rolle spielen, in anderen wiederum Sport. Beides kann und sollte vielleicht zumindest zeitweise getrennt betrachtet werden. Beides hat seine Berechtigu­ng. Natürlich ist es nicht falsch,

Kindern die Hintergrün­de des Turniers zu erklären, die dunkle Seite des schimmernd­en Events, die Missstände in Katar, ja im gesamten Weltfußbal­lverband Fifa zu umreißen. Kind- und altersgere­cht versteht sich. Falsch wäre allerdings, das so unsensibel, undifferen­ziert und unerbittli­ch zu tun, dass es Kindern und Jugendlich­en die Begeisteru­ng an dem Ballsport nimmt.

Fakt ist auch: Das Vereinswes­en in Deutschlan­d leidet, und, viel wichtiger, durch die Pandemieja­hre auch das Soziallebe­n der Jüngsten. Fußball aufgrund seines Systems zu verdammen, hätte die falsche Wirkung. Schlimmste­nfalls das Ersticken einer Leidenscha­ft, die neben Fitness und Gesundheit Kindern oft Freundscha­ften fürs Leben einbringt.

Den Fernseher für die nächsten Wochen ausgeschal­tet zu lassen, bringt leider kein Menschenle­ben zurück. 6500 Arbeiter sollen ihr Leben in Katar für diese WM gelassen haben, rund 100 pro WM-Spiel, oder anders gesagt: Jede Spielminut­e ist ein Mensch gestorben. Vielleicht sind es Anmerkunge­n wie diese, die die Schattense­ite der schönen Fußballwel­t deutlich machen können. Boykott allein bringt keine Einsicht, und auch Panini-Hefte sollten nicht zum Politikum werden. Interesse sorgt für Aufmerksam­keit, das ist auch bei Kindern so, und Aufmerksam­keit für Offenheit.

Es wird vielleicht mehr Fragen geben und weniger eindeutige Antworten. Familien sollten sich dem ruhig stellen.

 ?? FOTO: MARIJAN MURAT/DPA ?? Vor einer WM beginnt meist auch das große Sammeln – zum Beispiel von Panini-Stickern. Kauft man seinen Kindern diesmal auch ein solches Fußball-Album – oder lässt man es wegen den Umständen in Katar sein?
FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Vor einer WM beginnt meist auch das große Sammeln – zum Beispiel von Panini-Stickern. Kauft man seinen Kindern diesmal auch ein solches Fußball-Album – oder lässt man es wegen den Umständen in Katar sein?

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