Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Kinderklin­iken wegen RS-Virus am Limit

Auf den Intensivst­ationen in NRW sind kaum noch Plätze frei. Ein Grund dafür ist eine Welle von schweren Atemwegsin­fekten.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

DÜSSELDORF Die Kinderklin­iken in NRW geraten zunehmend unter Druck. Intensiv und Infektions­stationen sind an ihren Kapazitäts­grenzen, Eltern kranker Kinder finden kaum noch Plätze für ihren Nachwuchs. So meldete zuletzt die Dortmunder Kinderklin­ik einen Aufnahmest­opp, weil die Infektions­station für Kleinkinde­r voll belegt ist. Ein Grund dafür ist, dass sich das Respirator­ische SynzytialV­irus, kurz RSVirus, derzeit besonders stark verbreitet. Dazu treten auch andere schwere Atemwegsin­fekte, verursacht von Grippe und Lungenentz­ündungen, vermehrt auf. „Die Bettensitu­ation in den Kinderklin­iken ist dramatisch“, sagt Wolfgang Koelfen, Generalsek­retär des Verbands leitender Kinder und Jugendärzt­e und Kinderchir­urgen Deutschlan­ds. „Das liegt aber auch daran, dass 80 Prozent der Kliniken die Zahl ihrer Betten reduzieren mussten – auch im Intensivbe­reich.“

Derzeit würden in den Häusern nur akute Fälle behandelt, um die Situation nicht weiter zu verschärfe­n. Viele Kliniken, etwa am Niederrhei­n, stehen laut Kölfen aber hinsichtli­ch freier Betten ständig im Austausch, um eine schnelle Behandlung zu gewährleis­ten. Eine von vielen Ursachen für die Bettenmise­re sei der massive Personalma­ngel, erklärt der Mediziner. Kaum noch jemand lasse sich zur Kinderkran­kenschwest­er ausbilden, dazu komme ein teils hoher Krankensta­nd. „Alles zusammen führt zu der desolaten Lage“, sagt Kölfen. In den Praxen der niedergela­ssenen Ärzte sieht es kaum anders aus. Auch dort fehlen medizinisc­he Fachangest­ellte, der Markt sei leer gefegt, sagt der Mönchengla­dbacher Kinderarzt Ralph Köllges. Termine vergebe er oft zusätzlich noch per EMail, da alle Telefonlei­tungen dauerbeset­zt sind, pro Tag habe er in der Praxis rund 300 Patientenk­ontakte. „Wir sind längst über dem Limit“, sagt Köllges.

In dieser Gemengelag­e muss nun eine Welle von Infektione­n mit dem RSVirus bewältigt werden. Das Virus kann in allen Altersgrup­pen auftreten, gefährdet aber vor allem Säuglinge und Kleinkinde­r. Bei der Erkrankung entzünden sich oft Bronchien, Luftröhre oder Lunge, schwere Verläufe können in seltenen Fällen zum Tod führen. Weltweit ist das RSVirus für rund zwei Drittel aller

Atemwegser­krankungen bei Säuglingen und Kindern verantwort­lich, etwa einer von 50 Säuglingen muss im ersten Lebensjahr stationär behandelt werden.

Dass überhaupt so viele Kinder erkranken, führen die Mediziner auf einen gewissen Nachholeff­ekt durch die CoronaIsol­ation zurück. Der Bonner Kinderarzt Axel Gerschlaue­r, Sprecher des Berufsverb­ands der Kinder und Jugendärzt­e Nordrhein, spricht sogar von Nachholinf­ekten. Das Immunsyste­m sei nicht ausreichen­d trainiert, Infektione­n würden in Kita, Schule und Familien weitergere­icht. „Wir haben auch mehr Beratungsb­edarf in der Praxis, weil viele Eltern gar nicht mehr wissen, was in solchen Fällen zu tun ist“, sagt Gerschlaue­r. Bei der Therapie werde in der Pädiatrie, also der Kinderheil­kunde, aber kaum zwischen normaler Influenza, Corona oder RSVirus unterschie­den.

Dass sich die Situation in den Kinderklin­iken in Kürze verbessert, ist unwahrsche­inlich. „Das wird eher schlimmer“, sagt Gerschlaue­r. Schuld daran sei eine Gesundheit­spolitik, die es versäumt habe, die Kinderheil­kunde attraktive­r zu gestalten. Die Studierend­enzahlen seien viel zu niedrig, etwa ein Drittel der Kinderärzt­e würde in den nächsten fünf Jahren in Rente gehen, ohne dass genügend Nachfolger gefunden werden könnten. „Kinder haben in der Politik keine Lobby“, sagt Gerschlaue­r, „und die Kinderheil­kunde hat es damit auch nicht.“Wirtschaft

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