Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Kinderkliniken wegen RS-Virus am Limit
Auf den Intensivstationen in NRW sind kaum noch Plätze frei. Ein Grund dafür ist eine Welle von schweren Atemwegsinfekten.
DÜSSELDORF Die Kinderkliniken in NRW geraten zunehmend unter Druck. Intensiv und Infektionsstationen sind an ihren Kapazitätsgrenzen, Eltern kranker Kinder finden kaum noch Plätze für ihren Nachwuchs. So meldete zuletzt die Dortmunder Kinderklinik einen Aufnahmestopp, weil die Infektionsstation für Kleinkinder voll belegt ist. Ein Grund dafür ist, dass sich das Respiratorische SynzytialVirus, kurz RSVirus, derzeit besonders stark verbreitet. Dazu treten auch andere schwere Atemwegsinfekte, verursacht von Grippe und Lungenentzündungen, vermehrt auf. „Die Bettensituation in den Kinderkliniken ist dramatisch“, sagt Wolfgang Koelfen, Generalsekretär des Verbands leitender Kinder und Jugendärzte und Kinderchirurgen Deutschlands. „Das liegt aber auch daran, dass 80 Prozent der Kliniken die Zahl ihrer Betten reduzieren mussten – auch im Intensivbereich.“
Derzeit würden in den Häusern nur akute Fälle behandelt, um die Situation nicht weiter zu verschärfen. Viele Kliniken, etwa am Niederrhein, stehen laut Kölfen aber hinsichtlich freier Betten ständig im Austausch, um eine schnelle Behandlung zu gewährleisten. Eine von vielen Ursachen für die Bettenmisere sei der massive Personalmangel, erklärt der Mediziner. Kaum noch jemand lasse sich zur Kinderkrankenschwester ausbilden, dazu komme ein teils hoher Krankenstand. „Alles zusammen führt zu der desolaten Lage“, sagt Kölfen. In den Praxen der niedergelassenen Ärzte sieht es kaum anders aus. Auch dort fehlen medizinische Fachangestellte, der Markt sei leer gefegt, sagt der Mönchengladbacher Kinderarzt Ralph Köllges. Termine vergebe er oft zusätzlich noch per EMail, da alle Telefonleitungen dauerbesetzt sind, pro Tag habe er in der Praxis rund 300 Patientenkontakte. „Wir sind längst über dem Limit“, sagt Köllges.
In dieser Gemengelage muss nun eine Welle von Infektionen mit dem RSVirus bewältigt werden. Das Virus kann in allen Altersgruppen auftreten, gefährdet aber vor allem Säuglinge und Kleinkinder. Bei der Erkrankung entzünden sich oft Bronchien, Luftröhre oder Lunge, schwere Verläufe können in seltenen Fällen zum Tod führen. Weltweit ist das RSVirus für rund zwei Drittel aller
Atemwegserkrankungen bei Säuglingen und Kindern verantwortlich, etwa einer von 50 Säuglingen muss im ersten Lebensjahr stationär behandelt werden.
Dass überhaupt so viele Kinder erkranken, führen die Mediziner auf einen gewissen Nachholeffekt durch die CoronaIsolation zurück. Der Bonner Kinderarzt Axel Gerschlauer, Sprecher des Berufsverbands der Kinder und Jugendärzte Nordrhein, spricht sogar von Nachholinfekten. Das Immunsystem sei nicht ausreichend trainiert, Infektionen würden in Kita, Schule und Familien weitergereicht. „Wir haben auch mehr Beratungsbedarf in der Praxis, weil viele Eltern gar nicht mehr wissen, was in solchen Fällen zu tun ist“, sagt Gerschlauer. Bei der Therapie werde in der Pädiatrie, also der Kinderheilkunde, aber kaum zwischen normaler Influenza, Corona oder RSVirus unterschieden.
Dass sich die Situation in den Kinderkliniken in Kürze verbessert, ist unwahrscheinlich. „Das wird eher schlimmer“, sagt Gerschlauer. Schuld daran sei eine Gesundheitspolitik, die es versäumt habe, die Kinderheilkunde attraktiver zu gestalten. Die Studierendenzahlen seien viel zu niedrig, etwa ein Drittel der Kinderärzte würde in den nächsten fünf Jahren in Rente gehen, ohne dass genügend Nachfolger gefunden werden könnten. „Kinder haben in der Politik keine Lobby“, sagt Gerschlauer, „und die Kinderheilkunde hat es damit auch nicht.“Wirtschaft