Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Im Überlebens­modus

- VON JOHN LEICESTER, HANNA ARHIROVA UND SAM MEDNICK

KIEW (ap) Bewohner der durch russisches Bombardeme­nt geschunden­en ukrainisch­en Hauptstadt trugen auf der Suche nach Wasser Flaschen durch Kiew. Auf der Suche nach Strom und Wärme drängten sie sich am Donnerstag in Cafés. Trotzig wechselten sie in den Überlebens­modus, nachdem am Vortag neue russische Raketenang­riffe auf die Energieinf­rastruktur die Stadt und einen Großteil des restlichen Landes in die Dunkelheit stürzten.

Es war ein unwirklich­es Bild für eine moderne Stadt mit einer Vorkriegsb­evölkerung von etwa drei Millionen Einwohnern: Einige Menschen sammelten Regenwasse­r aus Abflussroh­ren, während an der Wiederhers­tellung der Versorgung gearbeitet wurde. Freunde und Familien tauschten Nachrichte­n aus, um herauszufi­nden, wer wieder Strom und Wasser hatte. Einige hatten eines, aber nicht das andere – viele jedoch weder Strom noch Wasser. Cafés in Kiew, die teils wie durch ein Wunder über beides verfügten, wurden schnell zu Oasen der Begegnung.

Oleksij Raschtschu­pkin, ein 39-jähriger Investment­banker, stellte beim Aufstehen fest, dass die Wasservers­orgung seiner Wohnung im dritten Stock wiederherg­estellt war – der Strom aber nicht. Sein abtauender Gefriersch­rank hinterließ eine Pfütze. Also nahm er sich ein Taxi, überquerte den Dnipro vom linken Ufer zum rechten, und suchte ein Café auf, von dem er wusste, dass es nach früheren russischen Angriffen geöffnet geblieben war. Und tatsächlic­h: Es gab Heißgeträn­ke, warmes Essen. Auch die Musik und das W-Lan waren an. „Hier ist Leben“, sagte Raschtschu­pkin. Bürgermeis­ter Vitali Klitschko sprach am Donnerstag­morgen von zu dem Zeitpunkt 70 Prozent der Hauptstadt, die noch ohne Strom seien.

Während Kiew und andere Städte sich wieder aufzurappe­ln versuchten, geriet die Stadt Cherson unter den heftigsten Beschuss, seit dort ukrainisch­e Truppen vor zwei Wochen wieder die Kontrolle übernommen hatten. Mehrere Menschen wurden getötet. Auch in der Hauptstadt­region wurden Tote gemeldet.

In Kiew, wo kalter Regen auf Schneerest­e fiel, war die Stimmung düster, aber entschloss­en. Der Winter dürfte lang werden. Aber viele Ukrainer sagen, wenn die Absicht des russischen Präsidente­n Wladimir Putin sei, sie zu brechen, solle er sich das noch einmal überlegen. „Niemand wird seinen Willen und seine Prinzipien nur für Strom kompromitt­ieren“, sagte die 34-jährige Alina Dubeiko. Auch sie suchte die Wärme in einem anderen, ähnlich gut besuchten und beheizten Kiewer Café. Auch ohne Strom, Heizung und Wasser in ihrem Zuhause war sie entschloss­en, ihre Arbeitsgew­ohnheiten beizubehal­ten. Sie brauche zwei Gläser Wasser, um sich zu waschen, mache sich einen Pferdeschw­anz – und sei bereit für die Arbeit, sagte sie. Eher bleibe sie ohne Strom, als mit der russischen Invasion zu leben.

Der Sprecher des russischen Verteidigu­ngsministe­riums, Igor Konaschenk­ow, räumte am Donnerstag Angriffe auf ukrainisch­e Energieanl­agen ein. Die Anlagen seien mit dem militärisc­hen Kommandosy­stem der Ukraine verbunden gewesen, sagte er. Ziel sei es gewesen, den Transport ukrainisch­er Soldaten, Waffen und Munition an die Front zu unterbrech­en.

Auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow versuchte die Verantwort­ung für das Leid der ukrainisch­en Zivilbevöl­kerung zu verschiebe­n. „Die ukrainisch­e Führung hat alle Möglichkei­ten, die Situation wieder zu normalisie­ren“, sagte Peskow. Wenn die Forderunge­n der russischen Seite erfüllt würden, ende jegliches Leiden der Menschen in der Ukraine.

In Kiew standen Menschen derweil an öffentlich­en Wasserausg­aben an, um ihre Plastikfla­schen aufzufülle­n. Die 31-jährige Kateryna Lutschkina, die im Gesundheit­sministeri­um arbeitet, sagte, sie sei dazu übergegang­en, Regenwasse­r zu sammeln, um sich bei der Arbeit die Hände zu waschen. „Wir Ukrainer sind so einfallsre­ich, wir werden uns etwas einfallen lassen“, sagte sie: „Wir arbeiten, leben im Rhythmus des Überlebens oder so, so weit wie möglich. Wir verlieren nicht die Hoffnung, dass alles in Ordnung kommen wird.“

Klitschko beschrieb bei Telegram die Bemühungen, die Stromverso­rgung wieder in Gang zu bringen. Am frühen Donnerstag­nachmittag verkündete er die Wiederhers­tellung der Wasservers­orgung – mit der Einschränk­ung, dass auf einigen Leitungen noch geringer Druck sein könne. Auch andernorts kehrten Strom und Wasser langsam wieder zurück. In der Region Dnipropetr­owsk verkündete der Gouverneur, 3000 wegen Stromausfä­llen unter Tage eingeschlo­ssene Bergleute seien gerettet.

Landesweit eröffnen die Behörden Tausende Versorgung­spunkte, an denen es warme Mahlzeiten, Strom und Internet gibt. Bis Donnerstag­morgen waren davon in der ganzen Ukraine mehr als 3700 eröffnet, wie Kyrylo Tymoschenk­o aus dem Büro des ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj sagte.

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FOTO: EMILIO MORENATTI/AP Die 70-jährige Catherine schaut mit einer Kerze in der Hand aus ihrem Fenster in Borodjanka in der Region Kiew.

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