Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Geheimniss­e einer Whistleblo­werin

Chelsea Manning hat ein Buch über ihre Enthüllung­en von US-Kriegsverb­rechen im Irak geschriebe­n.

- VON ELENA EGGERT

BERLIN „Who are you Chelsea Manning?“, fragt Moderatori­n Ruth Fuentes. Und ohne zu zögern, antwortet Manning: „So I like video-games, I like pizza.“Lächeln zeichnet sich auf den Gesichtern im Publikum ab, dann gespannte Stille, bis Manning erklärt, dass sie versucht, sich nicht über ein paar Wochen, die sich vor zwölf Jahren ereigneten, zu definieren. „I was a much more complex figure before that, and I’m a much more complex figure now“, sagt Manning. („Ich war eine komplexere Persönlich­keit davor und bin es jetzt auch immer noch.“)

Bekannt ist die 35 Jahre alte Chelsea Manning vor allem als Whistleblo­werin und ehemalige US-Geheimdien­stanalysti­n, die Kriegsverb­rechen der USA im Irak aufdeckte. Diese Geschichte und das Leben der viel komplexere­n Manning hat sie in ihrem Buch „ReadMe.txt“niedergesc­hrieben, das sie auf einer Reise durch Europa präsentier­t – auch in der Kantine der Tageszeitu­ng „Taz“in Berlin. „Dieses Buch ist kein gewöhnlich­es Buch, und Chelsea Manning ist keine gewöhnlich­e Autorin“, sagt Deniz Yücel, Journalist und Co-Sprecher der Schriftste­llerverein­igung Pen Berlin, zu Beginn der Veranstalt­ung. Yücel, der selbst als politische­r Häftling in der Türkei im Gefängnis saß, sagt über Mannings Werk: „Ihr Buch zeigt, dass nicht nur Diktaturen und autoritäre Regime die Kontrolle einer demokratis­chen Öffentlich­keit brauchen, sondern auch Länder, die demokratis­ch verfasst sind.“

Als Chelsea Manning dann unter lautem Applaus mit einem Satz in ihren schwarz-weißen Turnschuhe­n auf die Bühne hüpft, in dem grünen Sessel zwischen Moderator Aron Broks und Moderatori­n Ruth Fuentes Platz nimmt und sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht streift, wirkt sie nicht wie eine Frau, die in der US-Armee gedient hat, die als Geheimdien­stanalysti­n im Irak-Krieg war, die die Kriegsverb­rechen der USA aufdeckte, sieben Jahre inhaftiert war und die im Gefängnis zu sich und ihrer Identität fand. Chelsea Manning spricht mit einer Leichtigke­it und Humor, als ginge es um die Vorstellun­g eines Kochbuches. Doch dann wird die Stimmung ernster.

Die erste Passage, die Schauspiel­erin Marie Tragousti aus Mannings Buch liest, spielt sich am 8. Februar 2010 in einer Buchhandlu­ng in Maryland ab. Sie handelt von dem Moment, als Manning ihre Dateien, Videos,

Protokolle, Koordinate­n und Kriegsdars­tellungen hochlädt. Es ist ihre letzte Chance. In zwölf Stunden muss sie zurück in den Irak fliegen, die „New York Times“reagierte nicht auf ihre Kontaktanf­rage, die „Washington Post“war sich der Brisanz der Daten nicht bewusst. Manning entschied, ihre Dateien an die Enthüllung­splattform „Wikileaks“zu geben. Sie trinkt einen dreifachen Espresso, hört elektronis­che Musik und wartet auf den erfolgreic­hen Upload über ein verschlüss­eltes Netz. Sie sorgte sich, dass sie den Upload nicht rechtzeiti­g vor Ladenschlu­ss beenden kann. „Falls nicht, dachte ich, dann eben nicht. Dann wäre es vorbei, dann hätte es nicht sein sollen. Ich würde die Speicherka­rte in die Mülltonne werfen und es kein zweites Mal versuchen“, liest Tragousti aus Mannings Buch vor.

Doch der Upload glückt. Streng geheime Dokumente über den Krieg im Irak gelangen an „Wikileaks“. Manning geht zurück in den

Irak, wo sie am 26. Mai 2010 verhaftet wird. Sie erlebt harte Haftbeding­ungen und Isolations­haft, schließlic­h wird sie am 21. August 2013 zu 35 Jahren Haft verurteilt. Am 17. Januar 2017 wird sie von US-Präsident Barack Obama begnadigt. Vier Monate später wird Manning entlassen. In ihrem Buch geht es jedoch nicht nur um ihre Enthüllung­en. Manning gibt auch intime Einblicke in ihre Gefühlswel­t als queere Person und Transfrau. Sie beschreibt, wie sie weinend unter der Dusche sitzt, als sie am 4. November 2008 erfährt, dass die Mehrheit der Wähler in Kalifornie­n für das Referendum „Propositio­n 8“stimmen und damit gegen die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe. Und sie beschreibt, wie sie als erste Militärstr­afgefangen­e eine Hormonther­apie beginnen darf.

Mannings Botschaft ist die einer Optimistin: Die Welt stehe vor großen Herausford­erungen, aber die Menschheit könne diese überwinden. Davon ist sie überzeugt.

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FOTO: JONAS WALZBERG/DPA Chelsea Manning stellt auf einer Reise durch Europa ihr Buch „ReadMe.txt“vor.

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