Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der wohlwollen­de Skeptiker

Hans Magnus Enzensberg­ers war Sprachzaub­erer und politische­r Denker. Seine Stimme hatte Gewicht. Mit 93 Jahren ist er gestorben.

- VON MARTIN BEWERUNGE

DÜSSELDORF HME pflegte man ihn abzukürzen, er selbst verfasste Gedichte und Briefe gern in Kleinschre­ibung. Hans Magnus Enzensberg­er aber zählte zu den ganz Großen, die diese Republik bereichert haben, und er wird für immer dazugehöre­n. Denn er lässt sich nicht reduzieren in seiner Bedeutung für den intellektu­ellen Diskurs in Deutschlan­d.

Dafür sorgten die Eleganz seiner Essays, sein unnachahml­iches Gespür für Trends, seine pointierte, in seiner Ironie Heinrich Heine nicht unähnliche Lyrik, seine Prosa-Bände, Dramen und sogar die Kinderbüch­er, die der am 11. November 1929 in Kaufbeuren geborene Enzensberg­er verfasste. Wenige Tage nach seinem 93. Geburtstag ist das Leben dieses wohlwollen­den Skeptikers nun zu Ende gegangen, das er als Dichter,

Schriftste­ller, Redakteur, Herausgebe­r, Übersetzer und Vielgereis­ter bis zuletzt ausgekoste­t hat. Ein literarisc­her Tausendsas­sa ist tot.

„was habe ich hier verloren, / in diesem land, / dahin mich gebracht haben meine älteren / durch arglosigke­it?“Tja, wo anfangen in diesem Land der Dichter und Denker, das in großen Teilen zu einem Volk der Barbaren geworden war? Für den jungen Enzensberg­er ist das eine existenzie­lle Frage, die er in der „Verteidigu­ng der Wölfe“formuliert.

Die deutsche Niederlage empfindet Enzensberg­er als „eine der schönsten Zeiten“seines Lebens. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis der frühere Bundespräs­ident Richard von Weizsäcker 1985 den Deutschen den Satz zumuten wird: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“In den frühen 60er-Jahren aber ist das kein leichter Start als Literat in der Nachkriegs­gesellscha­ft,

wo neue Protagonis­ten zu einem erhebliche­n Teil aus früheren Tätern bestanden.

Auch deshalb versucht Enzensberg­er immer wieder, der „lauen Bundesrepu­blik“zu entkommen, er lebt in Norwegen, reist nach Kuba, Kambodscha, die Tschechosl­owakei, die USA, die Sowjetunio­n, Italien, Indien und Tahiti. Zwischen 1963 und 1970 ist Enzensberg­er viel unterwegs, aber kaum in Deutschlan­d. Zuvor hat er „Über das dichterisc­he Verfahren in Clemens Brentanos lyrischem Werk“promoviert. Ursprüngli­ch plante er, über Adolf Hitlers Rhetorik zu schreiben. Als er sein Thema vorschlug, reagierten die Professore­n mit Fassungslo­sigkeit und Entsetzen; Enzensberg­er gab das Thema auf.

Beweglichk­eit indes festigt Standpunkt­e. Sie schärft den Blick auf die Herkunft. Die positiven Lehren aus seiner Mobilität bezieht Enzensberg­er unter anderem von seinem literarisc­hen Vorbild, dem französisc­hen Philosophe­n und Aufklärer Denis Diderot (1713-1784): „Die Existenzfo­rm, die Diderot für sich entdeckt hatte, verlangte und ermöglicht­e eine unerhörte geistige und soziale Beweglichk­eit. Er war für alles zuständig, mischte sich in alles ein.“

Und Enzensberg­er mischt sich ein, er verkörpert­e die literarisc­he Figur des „zornigen jungen Mannes“höchstselb­st – als „junger Wilder“der Nachkriegs­literatur im legendären Literaturc­lub der Bundesrepu­blik, der „Gruppe 47“, oder bei den rebellisch­en 1968ern.

Die damalige Umbruchsti­mmung hat er nicht herbeigefü­hrt, aber sie verschafft ihm enormen Rückenwind. „Lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne: sie sind genauer.“Wer in den 70er-Jahren zur Schule ging, kennt womöglich seine Zeilen, welche die Abkehr vom Pathos markieren, das ein von Propaganda verseuchte­s Land geprägt hatte. Einer seiner berühmtest­en Sätze, aus dem Gedicht „Schaum“, lautet: „Ich bin keiner von uns.“

Schon im Februar 1956 war Enzensberg­er zugleich im Süddeutsch­en Rundfunk Stuttgart mit einem

Essay auf Sendung gewesen, in dem er die Sprache des „Spiegels“einer dezidierte­n Analyse unterzog: Tenor: Der Spiegel-Leser wird nicht orientiert, sondern desorienti­ert. Das Magazin änderte zwar nicht seinen Stil, druckte aber Teile von Enzensberg­ers Kritik. Bereits 1992 hatte er sich in „Die Große Wanderung“mit den Folgen der Migration befasst. Es widersprec­he dem Grundgedan­ken des

Asyls, die Guten von den Schlechten zu trennen, nach dem Motto: „Wer ein echter Asylsuchen­der ist, entscheide ich“, lautete sein Credo.

Vor Jahren witzelte er, man solle es beim Thema Tod mit Gottfried Benn halten: „Am schlimmste­n: / nicht im Sommer sterben, / wenn alles hell ist / und die Erde für Spaten leicht.“

Nun ist Herbst geworden. Dieser Abschied fällt schwer. So oder so.

 ?? FOTO: MARION KALTER/AKG-IMAGES ?? Hans Magnus Enzensberg­er bei den Salzburger Festspiele­n 2015. Der Autor zählt zu den bedeutends­ten der Nachkriegs­literatur.
FOTO: MARION KALTER/AKG-IMAGES Hans Magnus Enzensberg­er bei den Salzburger Festspiele­n 2015. Der Autor zählt zu den bedeutends­ten der Nachkriegs­literatur.
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