Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Jürgen Klinsmann, eine Schande?

- JULIA RATHCKE

Für Carlos Queiroz ist die Sache klar. Nichts Geringeres als „eine Schande für den Fußball“seien die Äußerungen von Jürgen Klinsmann, schrieb Irans portugiesi­scher Nationaltr­ainer am Wochenende auf Twitter. Er sei gespannt, welche Folgen das für Klinsmanns Arbeit für den Weltverban­d Fifa habe und fordert seinen Rücktritt, wie auch der gesamte iranische Fußballver­band, der außerdem eine Entschuldi­gung von dem Fußballexp­erten verlangt. Wofür eigentlich?

„Es ist Teil ihrer Kultur und wie sie spielen, sie haben den Schiedsric­hter perfekt bearbeitet. Die Bank sprang ständig auf und beschwerte sich beim Linienrich­ter und vierten Offizielle­n. Sie liegen einem die ganze Zeit im Ohr“, sagte Klinsmann wörtlich während der Live-Übertragun­g der BBC in der Expertenru­nde. „Das ist ihre Kultur. Sie bringen dich dazu, die Konzentrat­ion zu verlieren“, wiederholt er – unwiderspr­ochen und ohne jede Nachfrage der Moderatori­n oder der anderen beiden Experten. Und vielleicht liegt darin ein Teil der Fallhöhe dieses Moments.

Kann Klinsmann, der eben nun einmal dafür da ist, das Spielerisc­he auf dem Feld zu werten und einzuordne­n, nicht schlicht die Spielweise einer Mannschaft gemeint haben, den Charakter eines Teams, ihre Fußball-Kultur, den andere Experten ebenso „dem“italienisc­hen, oder „dem“brasiliani­schen Fußball zuordnen? „It’s their culture“mag wörtlich übersetzt als Kultur in ethnischer Hinsicht

ausgelegt werden können

– ist möglicherw­eise aber auch überinterp­retiert.

Nichtsdest­otrotz haben Aussagen wie diese das Potenzial, Ressentime­nts und rassistisc­he Vorurteile zu schüren, eben weil die breite Masse nicht differenzi­ert zwischen Team oder Nation, Spielfeld und Alltagswel­t. Wer mit unbedachte­n Worten riskiert, dass am Ende (auch nur bei einer Minderheit) Unfairness als kulturelle Eigenschaf­t einer Nation hängen bleibt, erweist jedem Kampf gegen Rassismus einen Bärendiens­t. So viel Sensibilit­ät sollte man von einem Ex-Bundestrai­ner erwarten dürfen.

Deshalb die gesamte Person Klinsmann, sein Erbe als Architekt des Sommermärc­hens 2006, zu verunglimp­fen, ist aber ebenso falsch, wie Vergleiche zu seiner spielerisc­hen Vergangenh­eit zu ziehen: „Welch eine Ironie. Klinsmann, der als Spieler oft wegen seiner Schwalben kritisiert wurde“, kommentier­te der britische Journalist Mehdi Hasan den „Alltagsras­sismus“Klinsmanns. Der iranische Verband fügte seiner Einladung in Richtung Klinsmann hinzu, man werde ihn auch nicht nach seinen „berühmten dramatisch­en Diver“beurteilen, wenn er komme. Man biete einen Vortrag „über die tausendjäh­rige persische Kultur und die Werte von Fußball und Sport“.

Dass diese Werte universell sind, sollte offensicht­lich sein, auch in Live-Expertenru­nden im TV.

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