Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Gefährlich­e Abwanderun­g in die USA

Immer mehr Firmen verlegen Fabriken ins Ausland. Habeck will den deutschen Industries­tandort stärken.

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Volkswagen, BMW, Bayer, BASF und RWE – die Liste der großen deutschen Industrieu­nternehmen, die ihre Fabriken in den USA ausbauen wollen oder dort neue planen, ließe sich locker verlängern. Ukraine-Krieg und Energiepre­iskrise haben auch viele Mittelstän­dler in Deutschlan­d veranlasst, über die Verlagerun­g ihrer Produktion­sstätten ins günstigere Amerika oder andere Weltregion­en nachzudenk­en. Zu teuer, zu langsam, zu alt – der Industries­tandort Deutschlan­d ist in Gefahr und der zuständige Bundesmini­ster hat sie erkannt.

Es gehe „um die Körperhalt­ung, mit der man auf den Platz geht“, sagt Wirtschaft­sminister Robert Habeck (Grüne) am Dienstag bei der Eröffnung einer Industriek­onferenz in Berlin. „Es scheint eine Lust am Herbeirede­n des Untergangs zu geben, die falsch ist“, sagt Habeck, weil derzeit in einem vielstimmi­gen Chor der Untergang des Industries­tandorts Deutschlan­ds beschriebe­n wird. Habeck will sich dagegen stemmen. Die Herausford­erungen seien riesig, „aber wir werden das hinkriegen, wir werden ein Industriel­and bleiben“, sagt Habeck. Die Industriep­olitik will er deshalb „ins Zentrum“seiner Bemühungen im kommenden Jahr stellen. Alterung der Gesellscha­ft, Fachkräfte­mangel, Energiekri­se und die klimaneutr­ale Transforma­tion der Wirtschaft: Es sei möglich, alles gleichzeit­ig zu schaffen, wenn man – in Analogie zum Fußball – mit der richtigen Körperhalt­ung auf den Platz gehe.

Eine Studie des Statistisc­hen Bundesamte­s scheint den Trend zur Deindustri­alisierung Deutschlan­ds zu bestätigen. Demnach hatte etwa jedes 60. deutsche Unternehme­n schon vor dem starken Anstieg der Energiekos­ten wirtschaft­liche Aktivitäte­n ins Ausland verlagert. Nach dem Anstieg der Energiepre­ise in diesem Jahr und vor allem wegen düsterer Zukunftspe­rspektiven, was die weitere Steigerung in den kommenden Jahren angeht, hat sich der Trend verstärkt. Bei einer Umfrage in diesem Jahr unter 600 Mittelstän­dlern hätten über 20 Prozent der Firmen bereits von konkreten Abwanderun­gsplänen berichtet, sagt der in dieser Woche wieder gewählte Industriep­räsident Siegfried Russwurm. „Unser Geschäftsm­odell steht enorm unter Stress“, warnt Russwurm. „Die Gefahr der Abwanderun­g ist real.“

Vor allem die USA locken Industrieb­etriebe

mit Energiepre­isen, die teils nur ein Zehntel der Preise in Deutschlan­d ausmachen. Hinzu kommt der neue „Inflation Reduction Act“, der mit Inflations­bekämpfung nicht viel zu tun hat. US-Präsident Joe Biden will unter anderem rund 370 Milliarden US-Dollar (rund 356 Milliarden Euro) in den Aufbau grüner, nachhaltig­er Technologi­en pumpen. Die USA hätten sich entschiede­n, „den Kampf um diesen Leitmarkt“zu führen, hatte Habeck in einer Bundestags­debatte vergangene Woche gesagt. Europa müsse diesen Kampf aufnehmen, fordert er jetzt auf der Industriek­onferenz. Auch die EU müsse viel mehr Geld in die Hand nehmen, um die klimaneutr­alen Zukunftste­chnologien aufzubauen.

Biden will Steuerguts­chriften nur dann vergeben, wenn Unternehme­n einen Teil ihrer Vorprodukt­e aus den USA beziehen und ihre Produkte in den USA produziere­n. Das sei nicht kompatibel mit den Regeln der Welthandel­sorganisat­ion (WTO), weshalb Europa vor der WTO klagen könnte, warnt Habeck. „Wir reden darüber mit den Amerikaner­n.“Die EU brauche eine „robuste Antwort“auf Bidens Industriep­olitik, sie müsse schneller Entscheidu­ngen treffen, mehr Fördermitt­el in die Hand nehmen, mehr in Europa produziere­n, einen „Zukunftspl­an“für ihre Industrie entwickeln, sagt Habeck.

Deutschlan­d habe da besonders gute Chancen, weil es beim Ausbau der erneuerbar­en Energien schon vergleichs­weise weit vorangekom­men ist, finden auch Russwurm und IG-Metall-Chef Jörg Hofmann auf der Konferenz. Russwurm fordert einen „Schultersc­hluss“von Industrie, Gewerkscha­ften und Politik, Hofmann eine „Industrieo­ffensive“, damit sich Deutschlan­d in den Zukunftsbr­anchen schneller neue industriel­le Standbeine aufbaut. Hier könnten dann auch Fachkräfte aus den „alten“in die „neuen“Industrien umgelenkt werden, so Hofmann.

Russwurm macht zudem klar, dass die akute Krisenbewä­ltigung wegen des Ukraine-Kriegs und die Transforma­tion der Industrie nur mithilfe des Staates gelingen könnten. Der Staat kappe jetzt mit der Gas- und Strompreis­bremse zwar die „Preisspitz­en“, aber da müsse noch viel mehr kommen. „Geld allein schießt keine Tore“, betont Russwurm und verweist damit auf die Notwendigk­eit, Bürokratie abzubauen, Investitio­nen zu erleichter­n, mehr Fachkräfte aus dem Ausland zu holen. Und zwar schnell, sehr schnell.

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FOTO: DPA Sigfried Russwurm (v.l.), Robert Habeck und Jörg Hofmann bei der Industriek­onferenz 2022 des Bundeswirt­schaftsmin­isteriums.

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