Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Verschlungener Weg zu sich selbst
Erstmals wurde das poetische Notizbuch von Peter Handke aus dem Jahr 1978 vollständig veröffentlicht. Eine spannende Ausgrabung zu seinem 80. Geburtstag.
DÜSSELDORF Die Linien gehen kreuz und quer über diese Landkarte. Ein bisschen über Italien, ein paar Striche ziehen sich durch Österreich und viele kleine durch das damalige Jugoslawien. Es ist Sommer 1978, und die Linie markiert Peter Handkes verschlungenen Weg vor allem zu sich selbst. Die kleine Odyssee, die der Erzähler, Dichter und spätere Literaturnobelpreisträger zu Fuß sowie mit Bus und Bahn zurücklegte, nahm ihren Anfang in Kärnten, der Landschaft seiner Herkunft, führte dann nach Slowenien, in den Karst, schließlich nach Norditalien.
Dass wir vieles von dieser Wanderung wissen, ist seinen umfänglichen, kleinsten Details nicht ignorierenden Aufzeichnungen zu verdanken. Am 6. Dezember wird Handke 80. Und als Gabe an Leser, Fans und Kritiker veröffentlichte man dazu jetzt und erstmals vollständig sein Notizbuch aus der Zeit vom 24. April bis 26. August 1978.
Klingt, als sei das etwas vornehmlich für Liebhaber und Experten. Doch Handkes Notizen sind eben keine ordentlichen Chronistenvermerke und Reisebelege. Die Aufzeichnungen sind vor allem Literatur und manchmal Poesie; ein Notizbuch als Wahrnehmungsschule, die auch den Leser noch das Sehen lehrt.
„Sich an einen Gott herandenken“liest man darin undatiert. Oder: „Die Welt war jetzt tatsächlich noch jung.“Und über sich: „Er wollte gleichmütig sein, wurde aber nur gleichgültig.“Schließlich: „Erstarrt vom Durcheinander seiner Verhältnisse.“Das ist keine Pose, vielmehr eine Art Ist-Zustand seiner Befindlichkeit damals. Im Gehen versucht Peter Handke sich also Klarheit zu verschaffen über diesen Peter Handke des Jahres 1978. Wer nach möglichen Vorbildern sucht, wird ausreichend fündig unter anderem bei Robert Walser und Handkes Landsmann Thomas Bernhard. Wozu der lange Weg zu sich selbst überhaupt nötig schien? Handke hat ja nie unter Erfolglosigkeit gelitten oder mangelnder Wahrnehmung. Gleich zu Beginn feierte er seit Mitte der 60er-Jahre Theaterund Prosaerfolge, etwa mit der „Publikumsbeschimpfung“, mit „Kaspar“und „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“. Und nebenbei hatte er der altehrwürdigen Gruppe 47 um Hans-Werner Richter auf ihrem Treffen in Princeton mit dem Vorwurf ihrer „Beschreibungsimpotenz“eine Art Todesstoß versetzt.
Also weitermachen wie bisher? Eine Schreibkrise Ende der 1970erJahre deutete an, dass diese Frage wohl berechtigt war. Handkes Antwort darauf ist das Gehen und das exzessive Schreiben seiner Notizen. 35.000 Seiten sollen bis heute entstanden sein. Ein Jahr später erscheint 1979 „Langsame Heimkehr“, ein Buch, das aus den Notizen und ihrem Geist reichlich schöpft. 2019 wird ihm in Stockholm der Literaturnobelpreis verliehen. Die jetzt veröffentlichten Notizen gewähren einen Blick in ein gleichermaßen bekanntes wie auch neues poetisches Werk. Von welchem Dichter lässt sich das an seinem 80. Geburtstag sagen?
Info Peter Handke: „Die Zeit und die Räume. Notizbuch 24. April – 26. August 1978. Suhrkamp, 312 Seiten, 35 Euro