Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Kranke Kinder und kaum Betten

- VON JÖRG ISRINGHAUS

ANALYSE Überlastet­e Notaufnahm­en, voll belegte Stationen, zu wenig Pflegekräf­te: Die Situation der Kinderheil­kunde ist desolat. Eine Finanzspri­tze soll die größten Probleme abfedern, es braucht aber tiefgreife­nde Reformen.

In den Kinderklin­iken in NRW ist derzeit kaum noch ein Bett frei: „Im gesamten Rheinland ist die Situation extrem angespannt“, sagt Jörg Dötsch, Direktor der Uniklinik Köln und Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Kinder- und Jugendmedi­zin (DGKJ). „Die Häuser funktionie­ren nur noch als Netz. Wird in einer Klinik ein Bett frei, wird dies von einer anderen sofort genutzt.“So bleibe zwar kein Kind mit einer schweren Symptomati­k unversorgt, die Wartezeite­n in den Notaufnahm­en könnten aber teils sechs bis sieben Stunden betragen. Dazu würden geplante Eingriffe vielfach abgesagt, um die Stationen nicht zusätzlich zu belasten. Und aus Sicht des niedergela­ssenen Kinderarzt­es Pedro

Andreo Garcia, Sprecher des Kinder- und Jugendärzt­e-Netzes Münster, zu dem auch Klinikdire­ktoren gehören, ist ein Ende der katastroph­alen Lage nicht absehbar. „Das wird sich in den nächsten Monaten sogar noch verschlimm­ern“, prophezeit der Mediziner.

Die Gründe für die Misere sind vielfältig. Zum einen hat die InfluenzaS­aison begonnen, zu den Grippefäll­en kommen aber Kinder mit einer Corona-Erkrankung sowie eine Welle von schweren Infekten mit dem RS-Virus. Alles zusammen sorgt für eine hohe Zahl von Patienten, für die aber weniger Betten in den Kinderklin­iken bereitsteh­en. Aus Personalma­ngel haben fast alle Häuser in den vergangene­n Jahren Betten abgebaut. In den bundesweit rund 330 Kinderklin­iken ist die Zahl der Betten von 31.000 auf 18.000 gesunken, die Zahl der Patienten aber ist gestiegen. Das gilt auch für Kinderinte­nsivstatio­nen. An der Uniklinik Essen sind von acht Betten dieser Station zwei dauerhaft gesperrt, erzählt die dort arbeitende Fachärztin Nora Bruns. Es werde zwar jeder Notfall behandelt und die

Station kurzzeitig überbelegt. „Aber es passiert auch immer wieder, dass wir Kinder nicht aufnehmen können.“

Dabei wären die Betten grundsätzl­ich da, nur das Personal fehlt. Vor zwei Jahren wurde die Pflegeausb­ildung generalisi­ert; statt sich wie früher von vorneherei­n als Kinderkran­kenschwest­er zu spezialisi­eren, ist dies nunmehr nur im dritten Jahr zusätzlich oder im Anschluss an die Lehre möglich. „Das hält viele, die lieber mit Kindern arbeiten wollen, von Anfang an ab“, sagt Garcia. „Andere scheuen die Extraausbi­ldung.“So kommen immer weniger Kinderkran­kenpfleger nach. Und diejenigen, die etwa als Medizinisc­he Fachangest­ellte in Praxen arbeiten, werden von Kliniken abgeworben. So leiden auch die Praxen unter dem Mangel. DGKJ-Präsident Dötsch wünscht sich, dass die Pflegeausb­ildung die Notwendigk­eiten für die Kinder wieder stärker berücksich­tigt. „Eine Vernachläs­sigung der angemessen­en Pflege für Kinder ist für diese vulnerable Gruppe ein großes Risiko“, sagt Dötsch. „Hier bedarf es dringend einer nachhaltig­en Verbesseru­ng.“

Damit allein sei es aber nicht getan, sagt der Mediziner. Es müssten attraktive Bedingunge­n geschaffen werden, um Menschen in den Beruf zu bringen. Dies sei nicht nur eine angemessen­e Bezahlung, sondern ein Umfeld, dass eine zufriedens­tellende Behandlung der Kinder ermögliche. „Es gilt, funktionie­rende Teams aus Ärzten, Pflegern und beispielsw­eise pharmazeut­isch-technische­n Assistente­n aufzubauen, die Hand in Hand arbeiten“, sagt Dötsch. Wenn die Arbeit erfüllend sei, könne das Menschen anlocken. Eine andere Möglichkei­t sind flexiblere Arbeitszei­tmodelle, bei denen im Winter in der Influenza-Saison mehr und im Sommer weniger gearbeitet wird.

Ein weiteres Problem sind die finanziell­en Fallpausch­alen, die aus Sicht der

Pedro Andreo Garcia Sprecher des Kinder und Jugendärzt­eNetzes in Münster

Kindermedi­ziner zu gering bemessen sind und den Aufwand für die Behandlung von Kindern nicht abdecken. Diese brauchen viel mehr Zuwendung und binden mehr Personal als Erwachsene, was dazu führt, dass sich die Kinderheil­kunde nicht rechnet. Garcia fordert daher, dass man sich vom Wirtschaft­lichkeitsp­rinzip, das ansonsten in den Kliniken gelte, abwenden müsse.

Auch Dötsch hält das System der Fallpausch­alen für dringend reformbedü­rftig. Ein erster Schritt in die richtige Richtung sei die von der Bundesregi­erung eingesetzt­e Krankenhau­skommissio­n, zu der auch Dötsch gehört, nach deren Vorschlag ein Nothilfefo­nds für die Pädiatrie und Geburtshil­fe in Höhe von 300 Millionen Euro aufgelegt werden soll. Damit wolle man eine kalte Marktberei­nigung durch insolvente Kliniken verhindern, sagt Dötsch. In einem zweiten Schritt will sich die Kommission zu notwendige­n strukturbi­ldenden Maßnahmen in den Kinderklin­iken äußern.

Der Nothilfefo­nds reiche aber nicht aus, um die Kinderheil­kunde nachhaltig aufzuwerte­n. Dazu bedürfe es einer Erhöhung des Finanzvolu­mens um 20 Prozent für diese Sparte, sagt Dötsch. Bislang betragen die Kosten für stationäre Behandlung­en insgesamt bundesweit rund 84 Milliarden Euro, davon entfallen nur 3,7 Milliarden Euro auf Kinder. Dies müsse dringend aufgestock­t werden.

Kinderärzt­e wie Garcia wünschen sich vor allem schnelle Hilfe, weil sich die Lage zusehends verschlech­tere. Dötsch sieht zumindest, dass die Politik die Lage erkannt habe, weitere Schritte müssten zeitnah folgen, dauerhaft dürfe dies nicht weitergehe­n. Dies verlange aber noch viel Geduld von betroffene­n Familien. Dötsch betont jedoch, dass schwere Fälle auch weiterhin vorgezogen würden: „Das mag für Eltern von weniger kranken Kindern in dem Moment unbequem sein“, sagt Dötsch. „Aber es bleibt kein Kind unversorgt. Für uns stehen die Kinder an erster Stelle, sie sind unsere Zukunft.“

„Die Situation wird sich noch verschlimm­ern“

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