Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Mitarbeiter schlafen im Auto“
Beschäftigte des Düsseldorfer Flughafens, die am Monatsende auf dem Parkplatz nächtigen, weil sie sich die Heimfahrt nicht leisten können, sieht der NRW-Landeschef des Arbeitnehmerflügels der CDU als Warnsignal.
Herr Radtke, sind Gas- und Strompreisdeckel ein guter Plan? RADTKE Ja und nein. Die CDU ist für eine Preisdeckelung. So wie die Hilfspakete jetzt ausgestaltet sind, ist es viel zu kompliziert und zu bürokratisch. Den Strompreis zu deckeln, ist gut. Aber das führt ja nicht zu einer Kostenreduktion, sondern sorgt ausschließlich dafür, dass es nicht über eine Schwelle hinausgeht. Gerecht ist das alles nicht. Als EuropaAbgeordneter bekomme ich jetzt für meine Gasheizung zu Hause die Dezember-Gasrechnung einmal erstattet. Der Handwerker und die Verkäuferin, die mit Öl heizen, gehen aber leer aus. Das passt so nicht – das ist nicht gerecht, das ist nicht sozial austariert. Hätte man nicht monatelang Energie in die falschen Debatten wie Gasumlage, NeunEuro-Ticket oder die Laufzeitverlängerungen gesteckt, wäre womöglich ein besseres System dabei herausgekommen.
Was hätten Sie getan, um die Bezieher kleinerer Einkommen besser durch die Krise zu bringen? RADTKE Ich hätte es zielgerichteter gemacht. Ich muss nicht entlastet werden. Ich habe keine Existenzängste und brauche auch keine 300 Euro Energiekostenzuschuss. Bei mir melden sich aber Bürger, für die reicht das Geld am Ende des Monats nicht mehr aus, die Tankfüllung für den Weg zur Arbeit zu bezahlen. Die melden sich dann krank. Oder, anderes Beispiel: Am Flughafen in Düsseldorf schlafen die Mitarbeiter der Gepäckverladung am Monatsende im Auto auf dem Parkplatz, um sich den Weg nach Hause zu sparen. Das sind doch die Menschen, um die sich der Staat kümmern muss. Stattdessen werden Milliarden Euro ohne Sinn und Verstand über das Land verteilt. Das geht besser.
Und wie?
RADTKE Die Entlastungen hätten an Einkommensgrenzen festgemacht werden müssen. Wer über der Beitragsbemessungsgrenze liegt, der kommt viel besser durch die Krise als jemand, der darunter liegt. Bei der Mobilität bin ich für ein einkommensabhängiges Mobilitätsgeld. Und für die besonders hart getroffenen Menschen habe ich schon vor Wochen ein Rabattsystem bei Grundnahrungsmitteln vorgeschlagen. Das könnte man ganz einfach mit einer digitalen Lösung einführen. Dann weist sich der Betroffene beim Zahlen an der Supermarktkasse kurz per App aus, erhält den Rabatt – und der Händler bekommt den Differenzbetrag über seine monatliche Umsatzsteuererklärung erstattet. Stattdessen schauen wir tatenlos zu, wie sich immer mehr Menschen bei den Tafeln mit Lebensmitteln und warmen Mahlzeiten versorgen müssen. Zum Glück gibt es diese wunderbaren privaten
Initiativen in vielen Städten, aber nicht auf dem Land. Daher sollten wir dringend darüber beraten, Menschen mit kleineren Einkommen stärker zu entlasten, indem wir ihnen Freibeträge bei den Sozialversicherungen einräumen.
Ein zentraler Kostenfaktor ist das Wohnen. Der Bund plant weiter mit 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr. Erreichbar?
RADTKE Ein ständiges Wiederholen dieser plakativen Zahl aus dem Wahlkampf schafft keine Fakten. Die aktuellen Zahlen aus den Bauverwaltungen zeigen eher, dass dieses Ziel um 100.000 Einheiten verfehlt wird. Mich empört vielmehr, dass die Bundesregierung jetzt auch noch das Baukindergeld abschafft. Das macht mich fassungslos. Wir sind ohnehin beim Wohneigentum auf dem letzten Platz in Europa, aber mit Streichung dieser Förderung beerdigt man still, heimlich und völlig ohne Not ein sinnvolles Instrument.
„Die Entlastungen hätten an Einkommensgrenzen festgemacht werden müssen“
Wie haben Sie das Gerangel um das Bürgergeld empfunden?
RADTKE Als extrem ungeschickt von der Bundesregierung. Die Ampel hätte doch wissen müssen, dass sie mit den unionsgeführten Ländern im Bundesrat im Gespräch eine Lösung finden muss. Mit dem Kopf durch die Wand geht in der Politik wie im täglichen Leben selten etwas.
Zufrieden mit dem Kompromiss? RADTKE Auf jeden Fall. Die Debatte darf jedoch nicht enden. Wir müssen jetzt insgesamt die Qualität bei der Vermittlung von Arbeitslosen verbessern. Doch was macht die Bundesregierung? Sie streicht 600 Millionen Euro für Integrationsmaßnahmen von Langzeitarbeitslosen. Wenn ich mehr Qualität haben will, muss ich doch mehr Geld ausgeben. Wir brauchen in den Agenturen einen anderen Betreuungsschlüssel, damit die Sachbearbeiter ihre Kunden auch wirklich persönlich kennen und nicht nur ihre Karteikarten. Und wir müssen über die Sinnhaftigkeit von Maßnahmen reden. Wenn jemand zehn Jahre Geschäftsführer einer GmbH war, muss er nicht zum Bewerbungstraining gemeinsam mit jugendlichen Berufsanfängern gehen. Wir brauchen dringend eine Qualitätsdebatte.