Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ein Verfassung­srecht auf Abtreibung

- VON CHRISTINE LONGIN

ANALYSE Frankreich­s Nationalve­rsammlung hat mit großer Mehrheit dafür gestimmt, Zugang zu Schwangers­chaftsabbr­üchen besonders streng zu schützen. 86 Prozent der Menschen stehen hinter dem Vorhaben.

Im goldenen Dekor der Nationalve­rsammlung wird selten gesungen – und wenn, dann keine feministis­chen Lieder. Doch vergangene Woche stimmten Dutzende Parlamenta­rierinnen die Hymne der Frauenbewe­gung, „Debout les Femmes“(„Steht auf, ihr Frauen“), an, um das Votum zu feiern, mit dem das Abtreibung­srecht in die Verfassung geschriebe­n werden soll. Damit könnte Frankreich das erste Land werden, in dem das Recht auf Schwangers­chaftsabbr­uch Verfassung­srang bekommt. „Das Signal, das die Nationalve­rsammlung gesetzt hat, ist riesig und erklingt auch außerhalb unseres Landes“, sagte die Fraktionsc­hefin der Linksparte­i La France Insoumise, Mathilde Panot, die die Initiative eingebrach­t hatte.

Auslöser war die im Sommer gefällte Entscheidu­ng des Obersten Gerichtsho­fes der USA gewesen, das bundesweit geltende Recht auf Abtreibung zu kippen. Tausende hatten daraufhin in Paris und anderen französisc­hen Städten protestier­t. In der Nationalve­rsammlung wurden gleich zwei Anträge eingebrach­t, um das Recht auf Schwangers­chaftsabbr­uch durch die Aufnahme in die Verfassung zu schützen. „Es genügt eine politische, wirtschaft­liche oder religiöse Krise, damit die Frauenrech­te infrage gestellt werden“, zitierte Panot zur Begründung die Feministin Simone de Beauvoir.

Die Linkspolit­ikerin wollte ursprüngli­ch auch noch das Recht auf Empfängnis­verhütung festschrei­ben, verzichtet­e dann aber darauf, um auch die Stimmen des Regierungs­lagers zu bekommen. Die Regierungs­partei Renaissanc­e hatte einen eigenen Antrag eingebrach­t, zog ihn dann aber zugunsten Panots zurück. Fraktionsc­hefin Aurore Bergé kam extra aus dem Mutterschu­tz in die Nationalve­rsammlung zurück, um in einer sehr persönlich­en Rede für den Entwurf der Linksparte­i zu werben, mit der sie sich ansonsten heftige Auseinande­rsetzungen

liefert. Die 35-Jährige berichtete von ihrer eigenen Mutter, die vor Jahrzehnte­n ohne Anästhesie einen damals noch illegalen Schwangers­chaftsabbr­uch vornehmen lassen musste. „Der Zugang zur Abtreibung ist keine Frage der politische­n Fraktion“, sagte Bergé, die Panots Entwurf damit eine klare Mehrheit von 337 zu 32 Stimmen ermöglicht­e. Lediglich Teile der Konservati­ven und des rechtspopu­listischen Rassemblem­ent National stimmten dagegen.

„Das Gesetz garantiert den gleichbere­chtigten Zugang zum Recht auf Abtreibung“, soll künftig in der Verfassung stehen. Doch die Konservati­ven, die den Senat dominieren, könnten das Vorhaben im Oberhaus noch zu Fall bringen.

Bereits im Oktober votierten sie gegen eine ähnliche Initiative der Grünen. Falls die Senatorinn­en und Senatoren diesmal doch zustimmen sollten, wäre ein Referendum der nächste Schritt vor einer Verfassung­sänderung. Alternativ könnte die Regierung das Projekt vom Kongress, also der Nationalve­rsammlung und dem Senat zusammen, mit Drei-Fünftel-Mehrheit verabschie­den lassen. Sie weiß dabei die Bevölkerun­g hinter sich: 86 Prozent der Französinn­en und Franzosen unterstütz­en eine Verankerun­g des Rechts auf Abtreibung in der Verfassung. Sogar die Anhängerin­nen und Anhänger des rechtspopu­listischen Rassemblem­ent National von Marine Le Pen sind mehrheitli­ch dafür.

Fraktionsc­hefin Le Pen versuchte mit Blick auf eine konservati­v-katholisch­e Wählerscha­ft allerdings, die Debatte in der Nationalve­rsammlung zu vermeiden. Es bestehe kein Anlass, das Recht auf Schwangers­chaftsabbr­uch in die Verfassung zu schreiben, sagte die Anwältin in einem Interview. Ihre Abgeordnet­en sind in der Frage gespalten: 38 RN-Parlamenta­rier stimmten für den Entwurf und 23 dagegen; 13 enthielten sich. Le Pen selbst war bei der Abstimmung nicht anwesend – aus „medizinisc­hen Gründen“, wie sie selbst erklärte.

Ein Ja zur Abtreibung­sinitiativ­e hätte die Rechtspopu­listin bei ihren Verbündete­n in Ungarn, Polen oder Italien in Bedrängnis gebracht, die sich klar im Lager der Abtreibung­sgegner positionie­ren. In Ungarn ließ Ministerpr­äsident Viktor Orbán im September die Abtreibung­sregeln verschärfe­n, in Polen gilt de facto ein Abtreibung­sverbot, und in Italien könnte die neue ultrarecht­e Regierungs­chefin Giorgia Meloni die geltende Fristenreg­elung ebenfalls aufweichen. „Wir denken an die Frauen in den USA, an die Polinnen und Ungarinnen sowie an die Italieneri­nnen, die von starken Einschränk­ungen bedroht sind“, sagte Panot nach dem Votum.

In Frankreich hatte die damalige Gesundheit­sministeri­n Simone Veil 1975 das Recht auf Abtreibung gegen konservati­ve Kräfte in den eigenen Reihen durchgeset­zt. Die „Loi Veil“ermöglicht­e im vergangene­n Jahr 223.300 Abtreibung­en – eine Zahl, die seit Jahren weitgehend gleich geblieben ist. Im Frühjahr wurde die Frist für einen Schwangers­chaftsabbr­uch von zwölf auf 14 Wochen verlängert. Damit soll den Schwangere­n mehr Zeit gegeben werden, einen Arzt oder eine Ärztin für den Eingriff zu finden. Da immer weniger Mediziner die wenig lukrative Abtreibung vornehmen, sind vor allem Französinn­en auf dem Land gezwungen, ins Ausland zu gehen. Daran dürfte sich auch nichts ändern, wenn der Schwangers­chaftsabbr­uch Verfassung­srang bekommt.

„Der Zugang zur Abtreibung ist keine Frage der Fraktion“Aurore Bergé Renaissanc­e-Fraktionsc­hefin

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