Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wutausbruch mit Folgen
ANALYSE Die Corona-Proteste in China waren die erste ernste Herausforderung seit Langem für die kommunistische Führung. Sie sind ein Schlaglicht geblieben, haben aber das Bewusstsein verändert. Und sie haben konkrete Wirkungen.
Die jungen Pekinger halten ein leeres Blatt Papier vor ihre Brust, doch die ungeschriebene Botschaft verstehen alle Anwesenden sofort. „Wir wollen Freiheit, wir wollen Menschenrechte!“, schreit die Menge. Viele der Demonstranten haben nach Mitternacht ihre Maske abgelegt – und damit auch die Furcht vor den Überwachungskameras und den anwesenden Zivilpolizisten. Diese bleiben vorerst auf Distanz, schreiten nicht ein. Noch nicht. Erst am nächsten Tag schlägt die Staatsgewalt mit Wucht zurück. Am Ort des Geschehens patrouillieren Polizisten in Mannschaftsstärke; im Radius von mehreren Kilometern wachen an den Straßenkreuzungen Beamte in Zivil. Selbst aus der Ferne sind sie leicht zu erkennen – an den weißen Masken, die die Regierung an ihre Bediensteten ausgegeben hat.
So sind die ersten politischen Proteste in der chinesischen Hauptstadt seit den 90er-Jahren ein Schlaglicht geblieben. Sie haben allerdings jene kritische Stimmen sichtbar gemacht, die unter Xi Jinping bislang stumm geblieben sind. Viele von ihnen werden ihren Mut jedoch teuer bezahlen: Noch nach einer Woche hält die perfide Einschüchterungskampagne des Sicherheitsapparats an. Zynischerweise nutzt der Staat ausgerechnet jene digitalen Überwachungsmethoden, die er während der Pandemie eingeführt hat – nur um diesmal keine Corona-Infizierten auszuforschen, sondern unliebsame Bürger.
Die Chinesinnen und Chinesen haben mit ihren Protesten erstmals die Fesseln der rigiden Null-Covid-Politik gesprengt. Zunächst zogen die Bewohner von Ürümqi zu einem Trauermarsch auf die Straße, wo bei einem Wohnungsbrand im Lockdown mindestens zehn
Menschen gestorben waren; die Studierenden folgten. Auch sie waren oft unter dem Vorwand des Corona-Schutzes für Monate auf ihrem Campus eingesperrt – abgeschnitten vom öffentlichen Leben.
Für Außenstehende sind die Gängelungen durch die Corona-Maßnahmen in China schwer vorstellbar: In sämtlichen Städten müssen die Bewohner alle 72 Stunden zum PCR-Test anstehen, um überhaupt in einen Supermarkt gelassen zu werden. Der Gang ins Büro wird per „Gesundheitscode“am Smartphone digital registriert. Und selbst in den eigenen vier Wänden ist der Alltag von tiefer Ungewissheit geprägt: Am nächsten Morgen können bereits die Seuchenschutzmitarbeiter in ihren Ganzkörperanzügen vor der Wohnungsanlage stehen und die Türen verriegeln. Für einen mehrtägigen Lockdown reicht schließlich bereits ein Corona-Fall in der gesamten Nachbarschaft aus.
Doch den jungen Leuten ging es stets um mehr als eine Änderung der chinesischen Pandemie-Politik. Sie wollten auch eine Öffnung der Gesellschaft: mehr Meinungsfreiheit, weniger Gängelung durch die Partei. In Shanghai, wo die Jugend in das ehemalige französische Viertel zog, schrie die Menge sogar: „Nieder mit der Partei, nieder mit Xi Jinping!“In einem Land, in dem die Bewohner den Namen ihres Staatschefs meist nur im Flüsterton auszusprechen wagen, ist das geradezu unerhört.
Die Staatsführung wurde das erste Mal seit Jahren herausgefordert. Sie antwortete wenig überraschend mit Einschüchterung und Verhaftungen. „Wir müssen hart gegen Infiltration und Sabotage feindlicher Kräfte durchgreifen“, hieß es in einer ersten Stellungnahme der Kommunistischen Partei. Sie liest sich wie eine Warnung, die für viele zur traurigen Wirklichkeit wird: Polizisten hielten in Shanghais U-Bahnen und Straßenzügen gezielt nach jungen Menschen Ausschau, filzten ihre Smartphones, löschten kritische Aufnahmen und ausländische Apps.
Doch die Repressionen waren nur ein Teil der staatlichen Maßnahmen. Tatsächlich haben die Proteste sehr wohl dazu geführt, dass die Regierung ihre Null-Covid-Politik gelockert hat. Am Mittwoch sprach Chinas Vizepremierministerin Sun Chunlan, bei vielen als „Lockdown-Lady“verschrien, plötzlich von einer „neuen Phase“der Pandemie. „Da die Omikron-Variante weniger pathogen geworden ist, mehr Menschen geimpft werden und wir mehr Erfahrungen in der Covid-Prävention gesammelt haben, befindet sich unser Kampf gegen die Pandemie in einem neuen Stadium und bringt neue Aufgaben mit sich“, sagte die 72-Jährige.
In der Tat begannen erste Städte nur Stunden später mit den ersten Öffnungen. In Guangzhou im Süden des Landes wurden die Schulen wieder aufgeschlossen, die stadtweiten Massentests ausgesetzt und die meisten Lockdowns aufgehoben. Die Provinzhauptstädte Zhengzhou und Chongqing in Zentralchina zogen mit ähnlichen Lockerungen nach. Und selbst in Peking, dem politischen Machtzentrum des Landes, dürfen sich seit Freitag erstmals Infizierte in den eigenen vier Wänden isolieren.
Für viele Chinesen dürfte die eingeleitete schrittweise Rückkehr zur Normalität den angestauten Frust dämpfen. Doch die jungen Menschen in Shanghai und Peking werden sich nicht damit zufriedengeben. Ihr Protest ist zwar verstummt, doch die Gründe für die Wut der Menschen sind noch da.
Und zumindest im Ausland wird der Geist der Proteste von Shanghai und Peking weitergetragen. In Hongdae, dem Studentenviertel der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, sind am Mittwoch Dutzende Chinesen zusammengekommen, um ihre Solidarität mit den Protesten in ihrer Heimat zu bekunden. Auch sie hielten leere weiße Blätter in die Luft. Wie in China.
Der Protest ist zwar verstummt, aber die Gründe für die Wut sind nicht verschwunden