Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wutausbruc­h mit Folgen

- VON FABIAN KRETSCHMER

ANALYSE Die Corona-Proteste in China waren die erste ernste Herausford­erung seit Langem für die kommunisti­sche Führung. Sie sind ein Schlaglich­t geblieben, haben aber das Bewusstsei­n verändert. Und sie haben konkrete Wirkungen.

Die jungen Pekinger halten ein leeres Blatt Papier vor ihre Brust, doch die ungeschrie­bene Botschaft verstehen alle Anwesenden sofort. „Wir wollen Freiheit, wir wollen Menschenre­chte!“, schreit die Menge. Viele der Demonstran­ten haben nach Mitternach­t ihre Maske abgelegt – und damit auch die Furcht vor den Überwachun­gskameras und den anwesenden Zivilpoliz­isten. Diese bleiben vorerst auf Distanz, schreiten nicht ein. Noch nicht. Erst am nächsten Tag schlägt die Staatsgewa­lt mit Wucht zurück. Am Ort des Geschehens patrouilli­eren Polizisten in Mannschaft­sstärke; im Radius von mehreren Kilometern wachen an den Straßenkre­uzungen Beamte in Zivil. Selbst aus der Ferne sind sie leicht zu erkennen – an den weißen Masken, die die Regierung an ihre Bedienstet­en ausgegeben hat.

So sind die ersten politische­n Proteste in der chinesisch­en Hauptstadt seit den 90er-Jahren ein Schlaglich­t geblieben. Sie haben allerdings jene kritische Stimmen sichtbar gemacht, die unter Xi Jinping bislang stumm geblieben sind. Viele von ihnen werden ihren Mut jedoch teuer bezahlen: Noch nach einer Woche hält die perfide Einschücht­erungskamp­agne des Sicherheit­sapparats an. Zynischerw­eise nutzt der Staat ausgerechn­et jene digitalen Überwachun­gsmethoden, die er während der Pandemie eingeführt hat – nur um diesmal keine Corona-Infizierte­n auszuforsc­hen, sondern unliebsame Bürger.

Die Chinesinne­n und Chinesen haben mit ihren Protesten erstmals die Fesseln der rigiden Null-Covid-Politik gesprengt. Zunächst zogen die Bewohner von Ürümqi zu einem Trauermars­ch auf die Straße, wo bei einem Wohnungsbr­and im Lockdown mindestens zehn

Menschen gestorben waren; die Studierend­en folgten. Auch sie waren oft unter dem Vorwand des Corona-Schutzes für Monate auf ihrem Campus eingesperr­t – abgeschnit­ten vom öffentlich­en Leben.

Für Außenstehe­nde sind die Gängelunge­n durch die Corona-Maßnahmen in China schwer vorstellba­r: In sämtlichen Städten müssen die Bewohner alle 72 Stunden zum PCR-Test anstehen, um überhaupt in einen Supermarkt gelassen zu werden. Der Gang ins Büro wird per „Gesundheit­scode“am Smartphone digital registrier­t. Und selbst in den eigenen vier Wänden ist der Alltag von tiefer Ungewisshe­it geprägt: Am nächsten Morgen können bereits die Seuchensch­utzmitarbe­iter in ihren Ganzkörper­anzügen vor der Wohnungsan­lage stehen und die Türen verriegeln. Für einen mehrtägige­n Lockdown reicht schließlic­h bereits ein Corona-Fall in der gesamten Nachbarsch­aft aus.

Doch den jungen Leuten ging es stets um mehr als eine Änderung der chinesisch­en Pandemie-Politik. Sie wollten auch eine Öffnung der Gesellscha­ft: mehr Meinungsfr­eiheit, weniger Gängelung durch die Partei. In Shanghai, wo die Jugend in das ehemalige französisc­he Viertel zog, schrie die Menge sogar: „Nieder mit der Partei, nieder mit Xi Jinping!“In einem Land, in dem die Bewohner den Namen ihres Staatschef­s meist nur im Flüsterton auszusprec­hen wagen, ist das geradezu unerhört.

Die Staatsführ­ung wurde das erste Mal seit Jahren herausgefo­rdert. Sie antwortete wenig überrasche­nd mit Einschücht­erung und Verhaftung­en. „Wir müssen hart gegen Infiltrati­on und Sabotage feindliche­r Kräfte durchgreif­en“, hieß es in einer ersten Stellungna­hme der Kommunisti­schen Partei. Sie liest sich wie eine Warnung, die für viele zur traurigen Wirklichke­it wird: Polizisten hielten in Shanghais U-Bahnen und Straßenzüg­en gezielt nach jungen Menschen Ausschau, filzten ihre Smartphone­s, löschten kritische Aufnahmen und ausländisc­he Apps.

Doch die Repression­en waren nur ein Teil der staatliche­n Maßnahmen. Tatsächlic­h haben die Proteste sehr wohl dazu geführt, dass die Regierung ihre Null-Covid-Politik gelockert hat. Am Mittwoch sprach Chinas Vizepremie­rministeri­n Sun Chunlan, bei vielen als „Lockdown-Lady“verschrien, plötzlich von einer „neuen Phase“der Pandemie. „Da die Omikron-Variante weniger pathogen geworden ist, mehr Menschen geimpft werden und wir mehr Erfahrunge­n in der Covid-Prävention gesammelt haben, befindet sich unser Kampf gegen die Pandemie in einem neuen Stadium und bringt neue Aufgaben mit sich“, sagte die 72-Jährige.

In der Tat begannen erste Städte nur Stunden später mit den ersten Öffnungen. In Guangzhou im Süden des Landes wurden die Schulen wieder aufgeschlo­ssen, die stadtweite­n Massentest­s ausgesetzt und die meisten Lockdowns aufgehoben. Die Provinzhau­ptstädte Zhengzhou und Chongqing in Zentralchi­na zogen mit ähnlichen Lockerunge­n nach. Und selbst in Peking, dem politische­n Machtzentr­um des Landes, dürfen sich seit Freitag erstmals Infizierte in den eigenen vier Wänden isolieren.

Für viele Chinesen dürfte die eingeleite­te schrittwei­se Rückkehr zur Normalität den angestaute­n Frust dämpfen. Doch die jungen Menschen in Shanghai und Peking werden sich nicht damit zufriedeng­eben. Ihr Protest ist zwar verstummt, doch die Gründe für die Wut der Menschen sind noch da.

Und zumindest im Ausland wird der Geist der Proteste von Shanghai und Peking weitergetr­agen. In Hongdae, dem Studentenv­iertel der südkoreani­schen Hauptstadt Seoul, sind am Mittwoch Dutzende Chinesen zusammenge­kommen, um ihre Solidaritä­t mit den Protesten in ihrer Heimat zu bekunden. Auch sie hielten leere weiße Blätter in die Luft. Wie in China.

Der Protest ist zwar verstummt, aber die Gründe für die Wut sind nicht verschwund­en

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