Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Nur Reformen führen aus der Krise

ANALYSE Zweimal in der Vorrunde der WM ausgeschie­den, früh raus bei der EM – das ist kein Zufall. Beim DFB und vor allem in der Entwicklun­g der Spieler und ihrer Persönlich­keiten muss sich einiges ändern. Welche Probleme die deutsche Mannschaft in Zukunft

- VON ROBERT PETERS

Natürlich wird jetzt wieder gejammert. Die deutsche Fußball-Nationalma­nnschaft beklagt die Ungerechti­gkeit der Schicksals­kräfte, namentlich den fehlenden Beistand der Spanier in deren Gruppenspi­el gegen Japan. Und Kapitän Manuel Neuer beteuerte tatsächlic­h trotzig: „Wir haben unsere Hausaufgab­en gemacht.“

Die Fans, die zu großen Teilen der Advents-WM in Katar die kalte Schulter zeigten, beklagen den Wankelmut ihrer Mannschaft, verblüffen­de defensive Schwächen und den seit Jahren anhaltende­n LimboTanz unter der Latte der eigenen Ansprüche her.

Im tiefen Tal der Krise wird nach dem dritten frühen Ausscheide­n aus einem wichtigen Turnier in Serie nicht nur viel gejammert, es werden auch Fragen gestellt. Die erste ist ganz leicht zu beantworte­n. Sie lautet: Wann hat das alles angefangen, wo setzt der Absturz eines Fußballlan­des ein, das ein natürliche­s Recht auf die Anwesenhei­t an der Weltspitze zu haben glaubt? Er beginnt am 13. Juli 2014 im Konfettire­gen von Rio de Janeiro. Der Weltmeiste­rtitel hat den klaren Blick vernebelt. Es war zwar niemand da, der wie Teamchef Franz Beckenbaue­r nach dem Triumph von 1990 laut festzustel­len wagte, Deutschlan­d sei nun auf Jahre hinaus unschlagba­r, aber gedacht haben es doch viele.

Zwei Jahre darauf reichte es noch fürs Halbfinale bei der Europameis­terschaft. Schon bei der Qualifikat­ion für das Turnier in Frankreich aber hatte es im Getriebe ordentlich geknirscht. Und der damalige Bundestrai­ner Joachim Löw war längst auf dem Weg, in eine Umlaufbahn um sich selbst aufzubrech­en. Am vermeintli­ch tiefsten Tiefpunkt vor vier Jahren in Russland war Löw nur noch entrückt. Die Mannschaft wurde als künstliche­s Produkt einer hemmungslo­sen Vermarktun­g wahrgenomm­en. Und der smarte Manager Oliver Bierhoff ließ die Kritik daran gekonnt an sich abperlen.

Ob es ihm diesmal gelingt, nachdem eine Auswahl von Großtalent­en erneut noch vor Erreichen des Minimalzie­ls gescheiter­t ist? Eine wesentlich offenere Frage. Bierhoff hat es in den ersten Minuten nach dem Ausscheide­n zumindest mal wieder geschafft, die Verantwort­ung für das große Ganze anderen zu überlassen. Er sei „am Ende für die Organisati­on zuständig“, hat er gesagt. Das hat er wirklich gesagt. So, als sei er der Sachbearbe­iter Teamreisen und Unterbring­ung in der Abteilung Nationalma­nnschaft und nicht der Geschäftsf­ührer Nationalma­nnschaft und Akademie im größten Einzelspor­tverband der Welt. Dass er noch schnell seine Verdienste um den WM-Titel 2014 wenigstens im Nebensatz gewürdigt wissen wollte, ist nur schwer zu ertragen. Man müsse die gesamte Bilanz seiner 18 Jahre beim DFB sehen, erklärte er, aber auch, dass ihm nach drei Turnier-Schlappen in Folge die Argumente fehlten. Immerhin.

Der große Verband ist nicht nur in der Einschätzu­ng der eigenen sportliche­n Leistungsf­ähigkeit einem Missverstä­ndnis unterlegen. Er hat sich auch nach der (viel zu späten) Ablösung von Löw durch Hansi Flick von einer Fehleinsch­ätzung leiten lassen. Die DFB-Spitze sah Flicks sieben Titel mit dem FC Bayern München und vergaß bereitwill­ig die gravierend­en Unterschie­de

zwischen Vereins- und Verbandsar­beit im Training. Im Klub lassen sich die taktischen Feinheiten und die wesentlich­en atmosphäri­schen Umstände in der täglichen Begegnung auf dem Trainingsp­latz mit Weitblick herstellen. Beim Verband ist der Aufenthalt der Nationalsp­ieler auf ein paar Tage beschränkt, die überdies durch allerlei Werbegedud­el zerschredd­ert werden, damit es, wenn schon nicht im Tor der Gegner, dann zumindest in der Kasse klingelt. Darauf haben Trainer keinen Einfluss, und für Bierhoff sind es selbstvers­tändliche Nebengeräu­sche. Der Fußball gerät so leicht aus den Augen.

Und er lässt sich nicht durch Knopfdruck reformiere­n. Erstens, weil die Einsicht in entscheide­nde fußballeri­sche Unzulängli­chkeiten (Abwehr, Außenverte­idiger, Sturmzentr­um) in Ausbildung­s-Prozesse münden müssen, die Jahre dauern. Zweitens, weil die Fußballleh­rer arme Kerle sind, die mit der über so lange Zeit herangebil­deten Eliteklass­e von Spielern zu tun haben. Die Spieler beherrsche­n das große Einmaleins aus Verschiebe­n, Pressing und abkippende­n Achtern.

Aber sie können auch herrlich gleichgült­ig, völlig ohne inhaltlich­e Gemeinsamk­eit und Konzentrat­ion aus Spielen aussteigen. Ihnen fehlt die Tugend, die Fußballman­nschaften zu großen Fußballman­nschaften macht: die Selbstvera­ntwortung.

Deshalb müssen Reformen nicht nur bei geduldiger Arbeit auf dem Trainingsp­latz ansetzen. Sie müssen auch das Paket der RundumSorg­los-Versorgung bereits für 15-, 16-Jährige in den Leistungsz­entren der Bundesligi­sten betreffen. Und wer sie betreibt, der darf selbstvers­tändlich nicht nur bis in den Sommer 2024 zur Heim-EM schauen. Da ist schon jetzt wieder die schillernd­e Selbstinsz­enierung zu befürchten, die den Graben zwischen Fans und dem wichtigste­n Produkt der Firma DFB aufgeworfe­n hat.

Wer reformiere­n will, und an der Notwendigk­eit ist ja nicht zu zweifeln, der muss Konzepte zur Persönlich­keitsförde­rung entwickeln, mehr Freiheit von am Laptop vorgezeich­neten Wegen geben und den Mut zur Anerkennun­g der Autorität eines Einzelnen in der Gruppe haben. Danach können ja wieder Werbefilmc­hen gedreht werden.

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FOTO: FEDERICO GAMBARINI/DPA Armel Bella-Kotchap (v.l), Kai Havertz, David Raum, Christian Günter, Leon Goretzka und Niklas Süle sitzen nach dem Costa Rica-Spiel sichtlich enttäuscht auf der Ersatzbank.

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