Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Das Sams ist ab und zu ein wenig lästig“
Er ist der Vater des Wesens mit den Wunschpunkten – aber auch Theater-Autor, Illustrator, Schriftsteller für Kinder und Erwachsene. Ein Gespräch über die Faszination von Geschichten, über Zufälle, Fehler und Fanpost.
Herr Maar, am 13. Dezember werden Sie 85 Jahre alt. Haben Sie einen Geburtstagswunsch?
PAUL MAAR Ich habe noch keinen geäußert. Ich stecke jetzt schon in den Vorbereitungen, führe jeden Tag ein Interview und beantworte Berge von Briefen. Ein paar Tage Ferien und Freiheit nach meinem Geburtstag wären nett: In einem Wellness-Hotel in die Sauna gehen, schwimmen.
Schon vor Jahren war die letzte Sams-Geschichte angekündigt, und dann gab es doch noch ein neuntes und zehntes Buch. Jetzt im Herbst ist der elfte Band „Das Sams und die große Weihnachtssuche“erschienen. Wie ist er entstanden?
MAAR Das war eher Zufall. Ich sollte eine Geschichte für eine Weihnachtsanthologie schreiben, sechs bis acht Seiten etwa. Als ich dann auf Seite 14 angekommen war, dachte ich: Ich kann eigentlich auch weiterschreiben. Ich habe meinen Verlag gefragt, ob sie statt einer Geschichte für die Anthologie auch ein Sams-Buch nehmen würden. Sie haben gejubelt.
Wer ist eigentlich der Papa des Sams – Sie oder Herr Taschenbier?
MAAR In den Büchern ist Herr Taschenbier der Papa, aber im realen Leben bin ich es. Ab und zu ist es ein wenig lästig, immer nur der Sams-Papa zu sein. Ich habe ja auch andere Geschichten geschrieben, wie „Herr Bello“und „Lippes Traum“und meine erste Geschichte „Der tätowierte Hund“. Sie sind mir genauso lieb. Aber bei Veranstaltungen werde ich oft mit den Worten „Hier kommt der Sams-Autor“angekündigt.
Es gibt kaum Merchandising vom Sams. MAAR Es gibt tatsächlich nicht viel Merchandising, aber inzwischen habe ich dem Druck meines Verlages etwas nachgegeben. Ich möchte, dass das Sams in den Köpfen der Kinder lebt. Man nimmt ihm den Nimbus, wenn das Sams auf jedem Joghurtbecher abgebildet wird. Irgendwann wird einem die Figur dann lästig.
Fühlen Sie sich manchmal zu sehr aufs Sams reduziert?
MAAR Ich werde vor allem als Kinderbuchautor wahrgenommen, dabei fällt oft unter den Tisch, dass ich auch Theaterautor bin. Das finde ich schade. Ich war der meist gespielte Theaterautor in Deutschland mit Stücken wie „Der weiße Wolf“, „In einem tiefen, dunklen Wald“. Mein Stück „Kikerikiste“wird gerade auf drei polnischen und zwei ungarischen Bühnen gespielt. Es ist eines meiner Lieblingsstücke: Wenn der Vorhang aufgeht, sieht man zwei Kisten. In denen hausen Bartholomäus und Kümmel. Im Grunde ist es ein positiv verändertes „Warten auf Godot“, meine Verneigung vor Samuel Beckett. Eine der Hauptpersonen in „Godot“heißt Estragon, bei mir heißt sie Kümmel, auch ein Küchengewürz.
Sie haben einmal gesagt, dass man Kindern das Lesen verbieten solle, um sie zum Lesen zu animieren. Wie sehen Sie das heute? MAAR Da wurde mein Zitat offenbar etwas verkürzt. Mein Vater hat mir, als ich Kind war, das Lesen verboten. Er war ein fleißiger Mann, ein Handwerkermeister, der sagte: Lies nicht das Buch, streich lieber das Zimmer. Ich habe dann aus Trotz und heimlich gelesen. Bezogen auf mich stimmt diese Aussage tatsächlich: Ich hätte ohne das Verbot meines Vaters sicher nicht so viel gelesen.
Sehen Sie es denn mit Sorge, dass Kinder heute kaum mehr lesen und eher mit digitalen Medien aufwachsen?
MAAR Es bereitet mir Sorgen. In meinen Lesungen – die heute seltener werden, weil ich viele ablehne – sitzen natürlich lauter Kinder, die gern lesen. Aber mir ist bewusst, dass es eine kleine Schicht ist. Ich war vor einiger Zeit auf Lesereise in Westfalen in einer Turnhalle. Von 150 Kindern kannte nur ein Mädchen das Sams, weil es das im Fernsehen gesehen hatte.
Wie kann man denn Kinder zum Lesen motivieren?
MAAR Was ich immer predige, ist das Vorlesen und Erzählen. Wenn sich Erwachsene mit Kindern hinsetzen, ihnen eine Geschichte – und dazu gehört ein Höhepunkt und ein guter Schluss – erzählen oder vorlesen, dann schafft das eine emotionale Nähe und Vertrautheit. Das behalten Kinder in guter Erinnerung, und es verbindet sich mit dem Gefühl, dass Geschichten hören und Bücher lesen etwas Schönes ist. Leider
sind es nicht allzu viele, die das praktizieren und die überhaupt Bücher zu Hause haben. Deshalb muss man heute eigentlich im Kindergarten anfangen, die Kinder mit Büchern vertraut zu machen: Das ist ein Buch. Man blättert es von vorne nach hinten durch. Es erzählt eine Geschichte. Ich habe auf einem offiziellen Termin einmal die damalige US-amerikanische First Lady Barbara Bush getroffen; sie schlug vor, dass jede junge Mutter, die das Krankenhaus mit ihrem Baby verlässt, zwei Bilderbücher geschenkt bekommt, mit der Bitte sie ihrem Kind zu zeigen und vorzulesen.
Was kann Literatur, was digitale Medien und Fernsehen nicht können?
MAAR Die digitalen Medien setzen den Kindern fertige Bilder vor. Das ist einseitig. Wenn etwa im Fernsehen ein Wald gezeigt wird, ist es zwangsläufig ein ganz bestimmter Wald. Beim Lesen stellt sich jedes Kind seinen eigenen Wald vor. Ängstliche Kinder ein lichtes Wäldchen, mutigere etwa einen dichten, düsteren Wald mit undurchdringlichem Unterholz.
Sie haben mal über sich selbst gesagt, Sie hätten keine schöne Kindheit gehabt und sie sich in ihren Büchern später schön geschrieben...
MAAR Das ist schon richtig. Ich hatte einen strengen Vater. Meine Kindheit war ein bisschen schwierig. Es gibt Kinderbuchautoren wie Astrid Lindgren, die hatten eine sehr liebevolle Kindheit, so eine Art Bullerbü-Idyll. Später als Astrid Lindgren alleinerziehend und berufstätig in Stockholm lebte, hat sie sich an diese sonnige Zeit erinnert und zu schreiben begonnen. Anders als etwa bei Janosch, dessen Vater gewalttätig war. Er erfindet sich bis heute eine schöne Kindheit.
Ist Ihnen Lesen und Schreiben heute immer noch eine Zuflucht und ein Trost?
MAAR Ja, bis heute. Meine Frau ist an Alzheimer erkrankt. Sie spricht nicht mehr, erkennt mich kaum. Das ist bisweilen eine bedrückende häusliche Situation. Wenn ich mich an den Computer oder vor den Schreibblock setze, in eine Geschichte eintauche, dann fühle ich mich hinterher getröstet.
Reimen Sie immer noch so gern?
MAAR Oh ja, das ist mir in die Wiege gelegt. Ich muss einfach reimen. Heute Morgen ist mir das Wort Nasenhaarschneider begegnet, und es hat mich sofort angeregt, einen Reim zu machen.
Wie hat sich Ihr Schreibprozess im Laufe der Jahrzehnte verändert?
MAAR Rein von der Technik ist es so, dass ich die ersten Seiten mit der Hand schreibe, mit vielen Korrekturen, oft durchstreiche, das übertrage ich dann in den Computer und dabei komme ich ins Schreiben rein. Ich spüre aber natürlich auch mein Alter. Das Denken läuft langsamer. Manchmal nehme ich den Thesaurus auf dem Computer zu Hilfe, um ein Wort zu finden. Mit 60 eilten meine Ideen dem Schreiben voraus, heute schleichen meine Ideen meinem Schreiben hinterher.
Das Sams hat keine Sommersprossen, sondern blaue Wunschpunkte, weil Sie nur einen blauen Buntstift zur Hand hatten. Wie wichtig ist der Zufall, wenn man kreativ ist? MAAR Der Zufall gehört zur Kreativität dazu, aber man sollte scheinbare Fehler und Versehen immer prüfen: Lässt sich daraus eine neue Idee entwickeln oder muss man sie wegwerfen?
Sie haben viele Ehrungen erhalten. Gibt es etwas, das Sie gern erreichen möchten? MAAR Abgesehen vom Nobelpreis eigentlich nicht. Nein, im Ernst. Die Auszeichnungen – meist ist es eine Medaille oder Ähnliches – habe ich in einem Schuhkarton gesammelt. Aber worüber ich mich fast noch mehr freue, sind die Kinderbriefe, die ich jede Woche bekomme. Ich beantworte jeden schriftlich.
Nach dem Prinzip „Sag niemals nie“: Wird es noch ein Sams-Buch geben?
MAAR Ich habe schon Ideen. Wenn es noch eines gibt, dann wird das Mini-Sams darin vorkommen. Es kommt in „Die große Weihnachtssuche“vor. Es schaltet sich immer mit den Worten „Ich hätte da mal eine Frage …“in die Gespräche ein. Ich habe es lieb gewonnen. Tatsächlich gibt es auch einen fünfseitigen Entwurf mit dem Mini-Sams und dem blauen Drachen.