Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Selbst Gerhard Schröder war zupackende­r“

Der CDU-Vorsitzend­e und Fraktionsc­hef der Union kritisiert die Arbeit der Ampelkoali­tion in ihrem ersten Jahr. Die Regierung streite zu viel. Lob erhält nur eine Ministerin.

- HAGEN STRAUSS FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Merz, die Ampel regiert seit einem Jahr. Fangen wir mit etwas Positivem an: Wofür würden Sie die Koalition loben?

MERZ In der Schule würde man sagen: Sie hat sich redlich bemüht. Aber die Koalition ist seit dem 24. Februar auch mit einer Situation konfrontie­rt, die man so nicht voraussehe­n konnte. Durch den Ukraine-Krieg haben sich die Bedingunge­n für die Politik auch in Deutschlan­d komplett verändert.

Zweifellos hat die Koalition in dieser Krise einiges auf den Weg gebracht, wenn auch manches vielleicht spät. Erkennen Sie das an? MERZ Der Bundeskanz­ler hat am 27. Februar in seiner Regierungs­erklärung von einer Zeitenwend­e gesprochen. Neun Monate später ist daraus außer 100 Milliarden Euro Schulden für die Bundeswehr und 200 Milliarden Euro weiterer Schulden für Energiepre­issubventi­onen, von denen wir bis heute noch nicht genau wissen, wie sie ausgestalt­et sind, noch nicht viel geworden. Der Bundeskanz­ler hätte durch die von ihm selbst so bezeichnet­e Zeitenwend­e eine große Chance gehabt, in unserem Land sehr viel mehr zu erreichen. Diese Gelegenhei­t hat er nicht genutzt. Die Regierung hat Deutschlan­d nicht fit gemacht für die Zukunft. Andere Bundeskanz­ler vor Scholz waren mutiger und zupackende­r. Selbst Gerhard Schröder. Ich erinnere nur an seine Arbeitsmar­ktreformen der Agenda 2010.

Klingt da Frust mit, weil Ihr Draht zum Kanzler nicht sonderlich gut ist?

MERZ Nein, überhaupt nicht. Unser persönlich­es Verhältnis ist in den letzten Wochen wieder besser geworden. Es hat ein abruptes Ende der Kommunikat­ion durch die Bundesregi­erung gegeben nach meiner Reise in die Ukraine. Seit dem Spätsommer läuft es wieder ganz gut.

Sie haben im Sommer auch gesagt, Sie seien sich noch nicht sicher, ob Scholz dem Amt gewachsen ist. Sehen Sie inzwischen klarer?

MERZ Wir werden nach wie vor unter Wert regiert. Die Koalition streitet zu viel und verwendet zu wenig Zeit darauf, in der Wirtschaft­s- und Energiepol­itik eine Wende zum Besseren hinzubekom­men. Wir haben jetzt Dezember und wissen immer noch nicht konkret, wie die Energiepre­ise denn bezahlbar bleiben sollen. Das größte Problem dieser Bundesregi­erung ist zurzeit die Wirtschaft­spolitik. Niemand auf der Leitungseb­ene des Wirtschaft­sministeri­ums versteht wirklich etwas davon, dort haben grüne Aktivisten das Sagen. Die Ergebnisse können wir sehen.

Wären Sie der bessere Kanzler? MERZ Die Frage stellt sich nicht, die Wahl ist entschiede­n.

Sie kann sich aber stellen.

MERZ Dann werden wir sie auch beantworte­n. Zurzeit bin ich der Opposition­sführer.

Die Union hat beim Sonderverm­ögen Bundeswehr und beim Bürgergeld kooperiert. Sind Sie beim Staatsbürg­erschaftsr­echt auch kompromiss­bereit?

MERZ Wir sind immer eine konstrukti­ve Opposition. Beim Sonderverm­ögen Bundeswehr und beim sogenannte­n Bürgergeld brauchte die Koalition unsere Zustimmung, aber alles, was jetzt kommt zum Asyl-, Einwanderu­ngs- und Staatsbürg­erschaftsr­echt, wird vermutlich ohne Bundesrat für die Koalition umsetzbar sein. Und das lässt die Ampel uns auch deutlich spüren.

Benötigt Deutschlan­d denn ein moderneres Einbürgeru­ngsrecht und mehr Zuwanderun­g von Fachkräfte­n?

MERZ Wir haben bereits ein modernes Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz gemacht in der großen Koalition. Das widerlegt jede Behauptung, man müsse jetzt überhaupt erst einmal bei null anfangen. Wir werden in Zukunft jedes Jahr mindestens 200.000 zusätzlich­e Arbeitskrä­fte brauchen. Das bestreiten wir nicht.

Aber: Wir haben in Deutschlan­d zurzeit 2,4 Millionen Arbeitslos­e. Dieses Potenzial muss stärker ausgeschöp­ft werden. In der EU gibt es zudem die Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit und damit rund 250 Millionen Menschen, die in ganz Europa arbeiten können, wo sie wollen. Aber es sind zu wenige davon bereit, nach Deutschlan­d zu kommen, auch weil hier die Steuern zu hoch sind und die Bürokratie zu groß ist.

Das klingt nach einem Plädoyer für mehr Einwanderu­ng qualifizie­rter Arbeitskrä­fte. Wo ist dann Ihr Problem?

MERZ Das ist in der Tat das Plädoyer, aber die Pläne der Ampel schöpfen das Potenzial nicht aus, das wir schon haben. Wir sind offen für Gespräche. Es müssen im Ergebnis dann aber auch Fachkräfte kommen. Ich erinnere nur daran, dass etwa 60 Prozent der Syrer in Deutschlan­d bis heute in Hartz IV festhängen. Gezielte Einwanderu­ng in den Arbeitsmar­kt ja, unkontroll­ierte Migration in die Sozialsyst­eme nein.

Heißt das zugleich, Sie fordern, mehr gegen die illegale Migration zu tun?

MERZ Die Bundesregi­erung hat den Bürgerinne­n und Bürgern eine Rückführun­gsoffensiv­e versproche­n. Die gibt es bisher nicht. Die notwendige Akzeptanz in der Bevölkerun­g gegenüber Einwandere­rn, die wir ja brauchen, wird nur zu erhalten sein, wenn beides getan wird: gezielte Einwanderu­ng in den Arbeitsmar­kt und Rückführun­g derer, die in Deutschlan­d keine Perspektiv­e haben. Zurzeit gibt es bei uns rund 300.000 ausreisepf­lichtige Asylbewerb­er. Da muss sich etwas ändern.

Kritiker sagen, Sie spielen immer öfter die Anti-Einwanderu­ngskarte. Auch Ihr „Sozialtour­ismus“-Vorwurf könnte dazu passen. Ist das Ihre Strategie?

MERZ Deutschlan­d ist schon längst ein Einwanderu­ngsland, und wir brauchen viele Menschen, die bei uns arbeiten wollen. Gefragt sind vor allem Fachkräfte, von der Forschung bis zur Pflege. Die Ampel kritisiert uns immer dann, wenn sie selbst – wie beim sogenannte­n Chancen-Aufenthalt­sgesetz – in Erklärungs­not gerät. Wir machen unsere Punkte deutlich. Und da sehe ich uns im Einklang mit großen Teilen der Bevölkerun­g.

Wie fällt Ihre außenpolit­ische Bilanz der Ampel aus?

MERZ Die Bundesauße­nministeri­n macht insgesamt einen guten Job. Sie ist präsent und vertritt eine werteorien­tierte Außenpolit­ik. Das ist dann richtig, wenn daraus eine werteorien­tierte und eine interessen­geleitete Außenpolit­ik wird.

Haben Sie dazugelern­t – Stichwort feministis­che Außenpolit­ik?

MERZ Den Begriff der feministis­chen Außenpolit­ik verwendet ja selbst die Koalition nicht mehr, nachdem sie gemerkt hat, dass sie damit an Grenzen stößt.

Wenn Sie von Interessen sprechen: Auch in der Union gibt es kritische Stimmen zu den Sanktionen gegen Russland, deren Folgen die Bürger belasten. Haben Sie dafür Verständni­s?

MERZ Das sind Einzelstim­men. Wir sind uns einschließ­lich der ostdeutsch­en Kollegen einig: Der Weg der Sanktionen ist richtig. Gar nichts zu tun oder Kriegspart­ei zu werden sind für uns keine Optionen. Die Sanktionen sind der Mittelweg, und sie wirken. Sie sind mühsam, sie haben Rückwirkun­gen. Aber wenn wir noch ein Mindestmaß an Selbstacht­ung haben, schauen wir nicht zuerst auf unseren eigenen Wohlstand. Es geht um Frieden und Freiheit.

Genau deswegen scheint die AfD aber stärker zu werden. Das ist auch ein Problem für die Union, gerade im Osten.

MERZ Trotzdem bleibt unsere Haltung richtig. Wir müssen sie vielleicht besser erklären. Aber in der Sache bleiben wir standhaft.

Ein Jahr Ampel heißt für Sie ein Jahr Opposition. Wo muss die Union besser werden?

MERZ Viele haben uns nach der verlorenen Bundestags­wahl einen weiteren Niedergang vorausgesa­gt. Der ist nicht eingetrete­n. Stattdesse­n werden wir wahrgenomm­en und haben viel erreicht. Ich bin davon überzeugt, wir werden uns in den Umfragen bei über 30 Prozent etablieren. Die Fraktion läuft, die Partei arbeitet intensiv an ihrer inhaltlich­en Neuaufstel­lung. Wir haben die Wahljahre 2024 und 2025 fest im Blick.

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