Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Leben nach den Bomben
Mehr als sechs Jahre nach den islamistischen Terroranschlägen in Brüssel hat der Prozess begonnen. Bis heute kämpfen viele der Opfer mit den Folgen.
BRÜSSEL (dpa) Die erste Bombe explodiert um 7.58 Uhr, wenige Sekunden später eine zweite. Um 9.11 Uhr folgt die dritte und letzte. „Ich war an dem Tag wütend. Dass ich so sterben würde, einfach weil jemand es beschlossen hat, in einer Metro“, sagt Christelle Giovannetti. Die 37-Jährige ist eine Überlebende der terroristischen Anschläge in Brüssel am
22. März 2016. Damals töteten drei islamistische Selbstmordattentäter 32 Menschen, Hunderte wurden verletzt. Seit diesem Montag stehen in der belgischen Hauptstadt die überlebenden mutmaßlichen Täter vor einem Schwurgericht.
Giovannetti saß in der Metro, als islamistische Attentäter im EU-Viertel die dritte Bombe zündeten, einen Waggon weiter. Etwa eine Stunde zuvor hatten andere Mitglieder der Terrormiliz Islamischer Staat
(IS) zwei Sprengkörper am Flughafen Zaventem hochgehen lassen. Nun ist Giovannetti eine von mehr als 900 Nebenklägerinnen und -klägern in dem Prozess, der vermutlich neun Monate dauern wird. „Ich habe das Ausmaß der Schäden gesehen und alle Toten und Verletzten, in einer Art Chaos. Aber es war sehr still, sehr ruhig, und auch sehr staubig“, erinnert sie sich. Sie konnte den Waggon verlassen und blieb in der Station Maelbeek, um Hilfe zu leisten. Durch den Knall der Explosion wurden ihre Ohren verletzt. Das merkt Giovannetti, die heute als Lehrerin für Erwachsene mit einer Behinderung arbeitet, immer noch. „Ich trage Hörgeräte und habe oft Tinnitus. Lärm macht mir zu schaffen.“
Auch Gaetan Meuleman, der damals Erste Hilfe leistete, kann die Bilder nicht vergessen. „Ich dachte, ich hätte alles gesehen während einer ziemlich langen Karriere auf der Intensivstation. Aber ich war nicht bereit für den 22. März“, sagt Meuleman, ein ehemaliger Intensivpfleger, der nun ein Altenheim leitet. Er half beim Aufbau eines Feldlazaretts in einem Hotel nahe der Metrostation. Bis heute hat der 52-Jährige in Menschenmengen oder geschlossenen Räumen den Reflex, nach Notausgängen Ausschau zu halten.
Louis Vanardois verlor seine Freundin My Atlegrim durch den Anschlag in der U-Bahn. Tagelang suchte er damals die Krankenhäuser ab. „Meine größte Angst war, sie zu verlieren. Und ich wusste, dass ich dabei war, meine größte Angst zu durchleben“, erzählt der 38-Jährige. Dann bekam er von der Polizei die Nachricht, dass Atlegrim zu den Toten gehört. „Ich habe sehr lange gebraucht, um mich davon zu erholen. Und ich glaube, der Prozess ist noch nicht ganz zu Ende“, sagt Vanardois. Jahrelang wollte er nichts von Entschädigung oder seinen Rechten als Opfer der Anschläge wissen. „Ich wollte einfach, dass sie sie wieder zum Leben erwecken.“
Durch Kontakt mit der Organisation Life 4 Brussels (Leben für Brüssel), die die Opfer vertritt, entschied Vanardois
sich schließlich, im Prozess als Zeuge auszusagen. Er hofft, dass ihm das Verfahren hilft, mit den Geschehnissen abzuschließen. Wie es ihm gehen wird, wenn er den Angeklagten begegnen wird, weiß er nicht. „Ich frage mich, was die Strafen sein werden“, sagt er. Und er ist unsicher, ob er sie als gerecht empfinden wird: „Nichts kann mir My zurückgeben.“
Insgesamt sind zehn Männer angeklagt – einer davon gilt als vermisst, möglicherweise in Syrien umgekommen. Ihnen werden terroristischer Mord, versuchter terroristischer Mord sowie die Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Im September fand bereits eine Voranhörung statt. Der eigentliche Auftakt wurde jedoch verschoben – wegen eines Streits, wie die Angeklagten im Saal untergebracht sind. Nun sitzen sie gemeinsam in einem Glaskasten.
Unter den Angeklagten sind auch sechs, die bereits im Prozess um die Anschlagsserie in Paris vom November 2015 verurteilt wurden – auch der dortige Hauptangeklagte Salah Abdeslam. Der 33-Jährige wurde in Paris zu lebenslanger Haft verurteilt und auch in Belgien bereits zu 20 Jahren, wegen einer Schießerei, bei der drei Polizisten verletzt wurden. Bei den Pariser Attentaten hatten Islamisten 130 Menschen getötet und 350 weitere verletzt. Die Anschläge in den beiden Hauptstädten wurden wahrscheinlich von derselben terroristischen Zelle geplant.
Das Verfahren in Brüssel wurde am Montag von der Präsidentin des Gerichts, Laurence Massart, eröffnet. Sie fragte die neun Angeklagten nach Namen, Alter, Beruf, Geburts- und Wohnort. Ein anderer mutmaßlicher Islamist, Mohammed Abrini, beklagte sich über die Bedingungen beim Transport zum Gericht. Abrini war beim Anschlag auf den Brüsseler Flughafen als „Mann mit Hut“auf Kamerabildern aufgetaucht. Er sagte, er habe sich für den Transport zum Prozess ausziehen und „laute satanische Musik“anhören müssen. „Seit sieben Jahren ertragen wir Ihre Rache“, sagte Abrini. Er werde keine Fragen beantworten, wenn das so weitergehe. Auch Anwälte beschwerten sich über die Bedingungen des Transports. Im Saal waren am Montag auch einige der Nebenklägerinnen und -kläger. Wegen der Größe des Prozesses findet dieser in umgebauten Räumen des früheren Nato-Hauptquartiers statt.