Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die zwei Seiten des Westbalkans
Eine EU-Mitgliedschaft gilt in den sechs Staaten als Lösung für vieles.
BRÜSSEL Tirana gehört nicht zu den Hauptreisezielen der europäischen Spitzenpolitik. Gleichwohl bestiegen Heerscharen von EU-Bediensteten und Regierungsbeamten der Mitgliedsländer am Montag Flieger Richtung albanische Hauptstadt. Bei ihrem jüngsten EU-WestbalkanGipfel im Sommer hätten die Teilnehmer den Eindruck gewonnen, die Zeit sei „reif für den ersten Gipfel in der Region“, sagte ein EU-Beamter im Vorfeld. Und so treffen an diesem Dienstag die Staats- und Regierungschefs der EU in Tirana ein. Begleitet wurde das Treffen schon im Vorfeld von Konflikten: So sagte Serbiens Präsident Aleksandar Vucic zunächst seine Teilnahme aus Wut über Albin Kurti, den Kosovo-Regierungschef, wieder ab. Am Montag teilte er dann überraschend mit, doch teilzunehmen.
Das illustriert die Schwierigkeiten auf dem Westbalkan. Da gab es für den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell zuletzt über Wochen wenig Dringlicheres, als sich mit Nummernschildern zu befassen. Zwischen dem Kosovo und Serbien schaukelte sich die Frage, ob auch die im Norden des Landes lebenden Serben kosovarische Nummernschilder an ihre Autos schrauben müssen, zu einer Frage von Ruhe und Gewalt hoch. Mit Mühe konnte der Streit geschlichtet werden.
Hinter ihm steht eine zweifach unklare Situation. Serbien betrachtet den Kosovo weiterhin als eigene Provinz, während die große Mehrheit der EU-Mitglieder ihn als souveränen Staat anerkannt hat. Ergänzt wird der Kosovo- durch den Bosnien-Konflikt. Beides wird überwölbt von den Zusagen der EU, dieses Kerngebiet Europas perspektivisch auch mit einer Mitgliedschaft auszustatten. Die sechs Staaten werden schließlich umgeben im Norden von Ungarn (seit 18 Jahren in der EU), im
Osten von Rumänien und Bulgarien (seit 15 Jahren in der EU), im Süden von Griechenland (seit 41 Jahren in der EU) und im Westen von Kroatien (seit neun Jahren in der EU).
Die Hinhaltetaktik der EU geht einher mit einer wachsenden Erwartungshaltung der EU an die Region, denn die „Balkanroute“der Migrationsströme macht erneut Probleme. Nach einem Krisentreffen der EU-Innenminister legte die Kommission am Montag ein neues Maßnahmenpaket aus 20 Vorhaben vor, um die Situation zusammen mit den sechs Staaten der Region in den Griff zu bekommen. Dazu gehört etwa ein Grenzmanagement an jeder einzelnen Grenze auf dem Weg von Süd nach Nord, wofür die EU die Zahl von 500 dort eingesetzten Frontex-Beamten nochmals erhöhen will.
Die Migration ist nur ein Teil der doppelten Sicht auf den Westbalkan. Da ist die Klage über einen Verlust gut qualifizierter junger Leute an die EU, die die Gipfel-Teilnehmer mit einem Milliarden-Programm für den Westbalkan beantworten wollen. Zugleich gibt es jedoch auch hier die andere Sicht: Je besser etwa die Verantwortlichen bei der Bekämpfung von Kriminalität und Korruption vorankämen, so empfiehlt Brüssel, desto leichter würde es auch Investoren aus der EU fallen, zum Wohlstand in der Region beizutragen.