Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Sorge um Printen und Stollen
Die Liste der in Deutschland nach europäischem Recht besonders geschützten Spezialitäten reicht vom Walbecker Spargel bis zum Düsseldorfer Senf. Die geplante EU-Herkunftsverordnung stellt die Hersteller vor große Probleme.
BRÜSSEL Essen aus der Region knüpft nicht nur an alte Traditionen an und vermeidet unnötig lange Transportwege in Zeiten des Klimawandels, es zeugt auch von spezifischer Qualität. Deshalb hat die Europäische Union allein in Deutschland 186 Lebensmittelprodukte unter besonderen Schutz gestellt. Anhand der Liste von Glückstädter Matjes bis Rheinischem Rübenkraut, von Aachener Printen bis Dresdner Christstollen, von hessischem Handkäs bis Düsseldorfer Senf lässt sich eine Genussreise von Nord nach Süd, von West nach Ost kreuz und quer durchs Land unternehmen. Und Verbraucher wissen: Die Gütesiegel der EU garantieren den geschätzten Geschmack und erschweren Billigkopien. Doch eine geplante Novelle lässt bei Herstellern nun die Alarmglocken schrillen.
Nach dem derzeit beratenen Entwurf für die Revision der Lebensmittel-Informationsverordnung müssen die Hersteller künftig die Herkunft für alle Lebensmittel und deren Inhaltsstoffe angeben, damit die Verbraucher genau erkennen können, woher die einzelnen Zutaten stammen. Zugleich will die EU damit die Nachhaltigkeit regionaler Lebensmittelherstellung stärken. „Vollkommen praxisfern“, schimpfte Bastian Fassin, Vorsitzender des Bundesverbands der Deutschen Süßwarenindustrie (BDSI), jetzt bei einem Informationstermin in Brüssel.
Am Beispiel seines Katjes-Werkes in Emmerich schilderte er die Anlieferung der Rohwaren in Lastwagen mal aus Deutschland, mal aus den verschiedenen Nachbarländern. Wäre die neue Bestimmung bereits in Kraft, müsste er nicht nur für jede Lieferung ein eigenes Silo je nach Land bauen, sondern auch genau festhalten, aus welchem Silo welche Süßigkeit entsteht, um dann eine entsprechende Vielzahl von Verpackungen für die jeweilige Produktion vorzuhalten.
Paolo de Castro, ehemals italienischer Landwirtschaftsminister und nun als EU-Abgeordneter Chefverhandler der Novelle, versuchte in Brüssel die Wogen zu glätten. Bei den regionalen Spezialitäten gehe es nicht um sämtliche Inhaltsstoffe, sondern um die jeweilige Hauptzutat, die mehr als 50 Prozent des
Inhaltes ausmache und für sie charakteristisch sei. Aber auch das ist aus Sicht von Niederegger-Chef Holger Strait problematisch. Im Lübecker Marzipan gehe es um Mandeln, die erkennbar nicht aus Lübeck kämen, sondern nach besonderen Qualitätstests aus Südeuropa bezogen würden. Und zwar – je nach Ernte – mal aus dem einen, mal aus dem anderen Land. Auch in Kalifornien gebe es vielversprechende neue Anbauten. Die Flexibilität sei nötig, um eine gleichbleibende Qualität des Produkts sicherzustellen. Das Ansinnen, damit die Nachhaltigkeit zu stärken, stellte Strait infrage: „Wir produzieren in siebter Generation seit über 215 Jahren, das hat wohl etwas mit Nachhaltigkeit zu tun“, unterstrich der MarzipanSpezialhersteller in Brüssel.
Auch Hermann Bühlbecker, Alleingesellschafter der LambertzGruppe, sieht die Betriebe durch die EU-Novelle vor „unlösbare logistische wie kontrolltechnische Herausforderungen gestellt“. Seine
Unternehmensgruppe, die Aachener Printen, Nürnberger Lebkuchen und Dresdner Christstollen herstelle, würde in ihrer Versorgungssicherheit, in ihren Prozessabläufen und in ihrer Flexibilität „dramatisch eingeschränkt“, warnt Bühlbecker. „In der derzeit sowieso schon sehr schwierigen Situation sind wir froh, wenn wir überhaupt genügend Rohstoffe und Verpackungsmaterial zur Verfügung haben, um vernünftig produzieren zu können“, sagt Bühlbecker unserer Redaktion.
Mit den massiven neuen Anforderungen der EU-Novelle drohten weitere bürokratische und finanzielle Belastungen, die in der Praxis nicht oder nur mit enormem Aufwand geleistet werden könnten. „Damit kämen im Rohstoff- und Verpackungsbereich der sowieso schon von exorbitanten Preissteigerungen geprägt und für diese Unternehmen von existenzieller Bedeutung ist, weitere Aufwendungen und Kosten hinzu, die die angespannte Gesamtsituation zusätzlich noch deutlich verschärfen würden“, so der Produzent von Printen, Lebkuchen und Stollen.
Die Europa-Agrarexpertin Marlene Mortler (CSU) begrüßt grundsätzlich den Schutz und die Kennzeichnung regionaler Produkte und empfiehlt, dass bei der Lebensmittelproduktion „Regionalität Trumpf“sein sollte. Sie sei der Schlüssel für die Ernährungssicherung in Europa, die sie als EU-Abgeordnete vehement fordere. „Wir müssen die Kirche aber im Dorf lassen“, sagt sie mit Blick auf die geplante Neufassung des EU-Lebensmittelrechtes. Dies gelte vor allem, wenn eine Verschärfung der bestehenden Regelungen weder wirtschaftlich noch ökologisch sinnvoll sei. Sie weist darauf hin, dass die Süßwaren-Herstellung in Deutschland zu 51 Prozent von Kleinbetrieben geleistet werde. Für sie seien die verlangten Kennzeichnungsvorgaben kaum umzusetzen. Kurzfristige Lieferantenwechsel wären dann nicht mehr möglich. Doch die Hersteller benötigten Rohstoffe für Süßwaren je nach Verfügbarkeit und Qualität. „Gerade in der aktuell angespannten wirtschaftlichen Lage dürfen wir unserem Mittelstand keine weiteren Hürden und bürokratischen Aufwand zumuten.“