Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Frankreich stellt den Strom ab

Im Winter sind gezielte Abschaltun­gen geplant. Nötig werden sie wegen des schlechten Zustands der Atomkraftw­erke.

- VON CHRISTINE LONGIN

PARIS Noch ist der Kreis auf dem Smartphone in freundlich­em Lindgrün gehalten. Doch im Januar könnte die App EcoWatt des französisc­hen Stromnetzb­etreibers RTE auf Gelb oder Rot wechseln. Das rote Signal bedeutet höchste Alarmstufe: Die Nachfrage nach Elektrizit­ät übersteigt dann das Angebot. Die Folge wären Stromabsch­altungen. Die Regierung spricht inzwischen offen über dieses Worst-Case-Szenario, bei dem Wohnungen dunkel bleiben, Schulen schließen und der Zugverkehr stillsteht. Ministerpr­äsidentin Elisabeth Borne gab vor wenigen Tagen ein Rundschrei­ben an die Präfekten in den 100 Départemen­ts des Landes heraus, in dem steht, wie im Falle solcher kontrollie­rter sogenannte­r Brownouts zu verfahren ist.

Die Abschaltun­gen sollen maximal zwei Stunden pro Tag dauern und nur zu den Stoßzeiten – zwischen 8 und 13 Uhr sowie zwischen 18 und 20 Uhr – erfolgen. Ob wirklich Stadtviert­el oder Gemeinden im Dunkeln versinken, wird erst am Vorabend endgültig entschiede­n. Klar ist allerdings schon jetzt, dass kein ganzes Départemen­t betroffen sein wird. „Das ist eine Konfigurat­ion wie ein Leopardenf­ell“, heißt es aus Regierungs­kreisen. Abgeschalt­et wird also nur auf nicht zusammenhä­ngenden Flächen, die immerhin bis zu sechs Millionen Einwohner umfassen können.

Ausgenomme­n von der drastische­n Maßnahme sollen Feuerwehr, Polizei und Krankenhäu­ser, aber auch einige Industrieb­etriebe sein. Wer an eine Stromleitu­ng angeschlos­sen ist, die beispielsw­eise ein Krankenhau­s versorgt, ist ebenfalls nicht betroffen. Insgesamt dürften so 40 Prozent der Bevölkerun­g verschont bleiben, heißt es.

Wer von den Brownouts betroffen ist, muss gewaltige Einschnitt­e

hinnehmen: Die Schulen sollen geschlosse­n werden, da sie nicht zu den prioritäre­n Einrichtun­gen gehören. Züge können in den betroffene­n Gebieten nicht mehr verkehren, da Bahnschran­ken und Signalanla­gen ohne Strom nicht funktionie­ren. Da die Ampeln ausfallen, sollen Autofahrte­n vermieden werden, Homeoffice wird allerdings auch nicht möglich sein – Internet und Telefon funktionie­ren ebenfalls nicht. Einzige Ausnahme: der Notruf 112.

RTE hatte bereits vor zwei Wochen davor gewarnt, dass für Januar ein „erhöhtes Risiko“für Engpässe bestehe. Grund dafür sind 20 der 56 Atomreakto­ren des Landes, die derzeit wegen Wartung oder Korrosions­problemen abgeschalt­et sind. Die laufenden Reaktoren produziere­n rund 35 Gigawatt Strom täglich, doch für den 1. Januar sind laut RTE mindestens 40 Gigawatt nötig. Frankreich, eigentlich eine StromExpor­tnation, werde im Winter sehr viel Strom importiere­n müssen, kündigte RTE-Chef Xavier Piechaczyk an. Zu den Ländern, die aushelfen müssen, gehört auch Deutschlan­d, das im Gegenzug französisc­hes Gas geliefert bekommt.

Da die Atomkraft in Frankreich rund 70 Prozent der Elektrizit­ät erzeugt, fallen die Mängel der meist mehr als 40 Jahre alten Anlagen besonders ins Gewicht. Jahrzehnte­lang erfreute sich das Land am billigen Atomstrom. Das verzögerte auch den Ausbau der Erneuerbar­en. Nur rund 20 Prozent machen derzeit Wind- und Sonnenener­gie aus. Präsident Emmanuel Macron will nun nachlegen, indem er die OffshoreWi­ndenergie ausbaut. Die Atomkraft schreibt er aber nicht ab: Bis 2035 sollen sechs neue Druckwasse­rreaktoren gebaut werden. Einer davon entsteht bereits in Flamanvill­e am Ärmelkanal. 2012 sollte die Anlage fertig sein – doch noch immer wird an ihr gebaut.

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FOTO: SEEGER/DPA Das AKW Fessenheim in der Nähe der deutschen Grenze erlebte etliche Störungen und wurde 2020 stillgeleg­t.

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