Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Der Steuermann
Bundeskanzler Olaf Scholz war viel in der Defensive – und er dringt mit seiner distanzierten Art nicht richtig durch.
Der Kanzler blättert in Akten, markiert hier und dort eine Stelle. Seine Tasche, Gegenstand langer Zeitungsartikel, lehnt neben ihm. Er legt die Stirn in Falten, das Papierstück scheint seine ganze Aufmerksamkeit zu binden. Doch plötzlich wird es am Rednerpult vor ihm so laut, dass Olaf Scholz sich dann doch entscheidet zuzuhören. Es sind sehr persönliche Vorwürfe, die er sich da vom Oppositionsführer an einem Septembermorgen im Bundestag anhören muss.
Der Kanzler halte Zusagen zur Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit nicht ein, könne sich
„wohl nicht mehr erinnern“, höhnt Unionsfraktionschef Friedrich Merz unter Anspielung auf den Cum-ex-Skandal, der Scholz noch aus seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister verfolgt.
Scholz und Merz, das wird keine politische Freundschaft mehr. Scholz hält Merz für zu eitel, als dass er ihn als vertrauenswürdig einstufen würde. Dies bringt den CDU-Chef derart auf die Palme, dass er wiederum Scholz jedes Interesse abspricht, in der großen Krise die Opposition einzubinden. Er hält den Kanzler für reichlich überheblich. Fragt man Vertraute auf beiden Seiten, so liegen beide Männer mit ihrer Einschätzung des jeweils anderen zumindest nicht ganz falsch.
Doch das Verhältnis war nicht von vornherein schlecht. Am 27. Februar 2022 hält Scholz die berühmteste Rede seiner noch jungen Amtszeit: Die Zeitenwende-Rede, nachdem drei Tage zuvor Russland die Ukraine überfallen hat und klar geworden ist, dass nichts mehr so sein wird wie zuvor. Scholz ist das bewusst. Und so ist es ausgerechnet ein SPD-Kanzler, der die Deutschen in ein neues Zeitalter des Militarismus führt. Die Opposition ist mit im Boot. In den frühen März-Tagen hängt die Gefahr einer Ausbreitung des Krieges mit Russland in der Luft. Deutschland schart sich in gewisser Weise um seinen Kanzler.
Doch just an diese Zeit schließt sich Scholz‘ bislang schwächstes Kapitel der öffentlichen Kommunikation an. Die Abstimmung über die Impfpflicht im Bundestag entgleitet dem Kanzler und der Koalition. Unklarheiten gibt es über die Waffenlieferungen an die Ukraine: zu viel, genug oder ausreichend? Scholz gerät in die Defensive, trotz reichlicher deutscher Lieferungen. Doch er dringt nicht durch, obwohl ihm sein abwägender Kurs auf der Straße mehr Zustimmung bringt als in den politischen Feuilletons. Woran liegt das?
Zu Beginn seiner Amtszeit erlebt man einen Politiker, der sich selbst ein wenig zu wundern scheint, was an ihm plötzlich alles so interessant für die Öffentlichkeit ist. Wie oft er sich die Haare schneiden lässt (sehr regelmäßig), was er auf Reisen trägt (ein Freizeit-Outfit erntet Spott in den sozialen Netzwerken), welche Bücher er liest (häufig Sachbücher), ob er seine „legendäre“alte Tasche damals selbst bezahlt hat (hat er). Es ist der mitunter verzweifelte Versuch, einem Menschen näherzukommen, der zu diesem Zeitpunkt kaum öffentlich kommuniziert, aber immer so wirkt, als gebe es ihn, den Masterplan – auch wenn er ihn gerade verlegt hat.
Auch außenpolitisch passieren Missgeschicke. Die Idee, Palästinenserpräsident Mahmud Abbas im Kanzleramt zu empfangen, erweist sich als Bumerang. Ein Holocaustvorwurf in Richtung Israel bleibt unwidersprochen, der Regierungssprecher wird es auf seine Kappe nehmen. Im eingeschworenen Team rund um Scholz, dessen Mitglieder ihn „den Chef“nennen, gärt es. Allerdings kann das Team zum Ende des Jahres auch einen Erfolg verbuchen. Sowohl der Trip nach Peking als auch Scholz‘ Auftritt bei den G20 sowie das Ergebnis des Gipfels, die Isolierung Russlands, kann Scholz mit seinen Leuten auf der Habenseite verbuchen.
Das Willy-Brandt-Haus wiederum macht es seinem Kanzler so leicht wie selten. SPD-Chef Lars Klingbeil war als Generalsekretär Scholz‘ Wahlkampfmanager, kennt Schwächen wie Stärken. Klingbeil geht in Reden weiter als sein ehemaliger Chef, definiert die Rolle Deutschlands auch militärisch neu. Co-Parteichefin Saskia Esken ist ebenfalls zufrieden. Schließlich gibt es im ersten Jahr der Ampelkoalition krisenbedingt mehr staatliche Umverteilung, als es sich die SPD in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hat. Allein der Wähler dankt das den Sozialdemokraten in Umfragen noch nicht so wie erhofft. Scholz wiederum ist so gut auf seine Partei zu sprechen wie selten. Sein manchmal glucksendes Lachen kommt hier häufiger zum Einsatz als bei anderen Themen.
Bleibt die Frage, wie es um seine Koalition bestellt ist. Im Wahlkampf gab es eine lange TV-Dokumentation über Scholz. Schlüsselszene war eine Ruderstrecke. Der Kandidat, der kraftvoll und einsam seine Bahnen zieht. Doch so ganz passt das Bild für den obersten Manager einer Dreierkoalition nun nicht mehr, zieht doch ein Ruderer seine Bahnen immer mit dem Rücken zur Spitze. Und im Takt läuft es mit Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) auch nicht. Atomdebatte, Gasumlage – die Sachfragen haben die Kraft, die Ampel zu sprengen. Scholz schiebt sogar ein Kanzler-Machtwort vor, die persönlichen Eitelkeiten und politischen Überzeugungen der beiden Partner lassen einen anderen Ausweg nicht zu. Mehr Steuermann sein, lautet das Fazit.
Was hält die Öffentlichkeit von ihrem Kanzler? Die Umfragen sind nach einem Jahr nicht gut, Krise hin oder her. Die Deutschen lieben ihre Politiker selten; Respekt ist das, was man erreichen kann. Noch schwingt in der öffentlichen Meinung allerdings auch die Erleichterung mit, dass zumindest kein Dilettant in Zeiten eines Krieges in Europa an der Spitze des Landes steht.
Drei Jahre hat der 64-Jährige nun noch, eine Wiederwahl zu sichern – wenn es ihm gelingt, die Koalition beisammenzuhalten. Ob er als Regierungschef das Format hat, die Herausforderungen seiner Zeit zu meistern, wird sich weisen. Die Lernkurve zeigt im ersten Jahr jedenfalls deutlich nach oben. Arrogant mag man Scholz nennen, beratungsresistent ist er nicht.