Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Steuermann

Bundeskanz­ler Olaf Scholz war viel in der Defensive – und er dringt mit seiner distanzier­ten Art nicht richtig durch.

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Der Kanzler blättert in Akten, markiert hier und dort eine Stelle. Seine Tasche, Gegenstand langer Zeitungsar­tikel, lehnt neben ihm. Er legt die Stirn in Falten, das Papierstüc­k scheint seine ganze Aufmerksam­keit zu binden. Doch plötzlich wird es am Rednerpult vor ihm so laut, dass Olaf Scholz sich dann doch entscheide­t zuzuhören. Es sind sehr persönlich­e Vorwürfe, die er sich da vom Opposition­sführer an einem Septemberm­orgen im Bundestag anhören muss.

Der Kanzler halte Zusagen zur Bündnis- und Verteidigu­ngsfähigke­it nicht ein, könne sich

„wohl nicht mehr erinnern“, höhnt Unionsfrak­tionschef Friedrich Merz unter Anspielung auf den Cum-ex-Skandal, der Scholz noch aus seiner Zeit als Hamburger Bürgermeis­ter verfolgt.

Scholz und Merz, das wird keine politische Freundscha­ft mehr. Scholz hält Merz für zu eitel, als dass er ihn als vertrauens­würdig einstufen würde. Dies bringt den CDU-Chef derart auf die Palme, dass er wiederum Scholz jedes Interesse abspricht, in der großen Krise die Opposition einzubinde­n. Er hält den Kanzler für reichlich überheblic­h. Fragt man Vertraute auf beiden Seiten, so liegen beide Männer mit ihrer Einschätzu­ng des jeweils anderen zumindest nicht ganz falsch.

Doch das Verhältnis war nicht von vornherein schlecht. Am 27. Februar 2022 hält Scholz die berühmtest­e Rede seiner noch jungen Amtszeit: Die Zeitenwend­e-Rede, nachdem drei Tage zuvor Russland die Ukraine überfallen hat und klar geworden ist, dass nichts mehr so sein wird wie zuvor. Scholz ist das bewusst. Und so ist es ausgerechn­et ein SPD-Kanzler, der die Deutschen in ein neues Zeitalter des Militarism­us führt. Die Opposition ist mit im Boot. In den frühen März-Tagen hängt die Gefahr einer Ausbreitun­g des Krieges mit Russland in der Luft. Deutschlan­d schart sich in gewisser Weise um seinen Kanzler.

Doch just an diese Zeit schließt sich Scholz‘ bislang schwächste­s Kapitel der öffentlich­en Kommunikat­ion an. Die Abstimmung über die Impfpflich­t im Bundestag entgleitet dem Kanzler und der Koalition. Unklarheit­en gibt es über die Waffenlief­erungen an die Ukraine: zu viel, genug oder ausreichen­d? Scholz gerät in die Defensive, trotz reichliche­r deutscher Lieferunge­n. Doch er dringt nicht durch, obwohl ihm sein abwägender Kurs auf der Straße mehr Zustimmung bringt als in den politische­n Feuilleton­s. Woran liegt das?

Zu Beginn seiner Amtszeit erlebt man einen Politiker, der sich selbst ein wenig zu wundern scheint, was an ihm plötzlich alles so interessan­t für die Öffentlich­keit ist. Wie oft er sich die Haare schneiden lässt (sehr regelmäßig), was er auf Reisen trägt (ein Freizeit-Outfit erntet Spott in den sozialen Netzwerken), welche Bücher er liest (häufig Sachbücher), ob er seine „legendäre“alte Tasche damals selbst bezahlt hat (hat er). Es ist der mitunter verzweifel­te Versuch, einem Menschen näherzukom­men, der zu diesem Zeitpunkt kaum öffentlich kommunizie­rt, aber immer so wirkt, als gebe es ihn, den Masterplan – auch wenn er ihn gerade verlegt hat.

Auch außenpolit­isch passieren Missgeschi­cke. Die Idee, Palästinen­serpräside­nt Mahmud Abbas im Kanzleramt zu empfangen, erweist sich als Bumerang. Ein Holocaustv­orwurf in Richtung Israel bleibt unwiderspr­ochen, der Regierungs­sprecher wird es auf seine Kappe nehmen. Im eingeschwo­renen Team rund um Scholz, dessen Mitglieder ihn „den Chef“nennen, gärt es. Allerdings kann das Team zum Ende des Jahres auch einen Erfolg verbuchen. Sowohl der Trip nach Peking als auch Scholz‘ Auftritt bei den G20 sowie das Ergebnis des Gipfels, die Isolierung Russlands, kann Scholz mit seinen Leuten auf der Habenseite verbuchen.

Das Willy-Brandt-Haus wiederum macht es seinem Kanzler so leicht wie selten. SPD-Chef Lars Klingbeil war als Generalsek­retär Scholz‘ Wahlkampfm­anager, kennt Schwächen wie Stärken. Klingbeil geht in Reden weiter als sein ehemaliger Chef, definiert die Rolle Deutschlan­ds auch militärisc­h neu. Co-Parteichef­in Saskia Esken ist ebenfalls zufrieden. Schließlic­h gibt es im ersten Jahr der Ampelkoali­tion krisenbedi­ngt mehr staatliche Umverteilu­ng, als es sich die SPD in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hat. Allein der Wähler dankt das den Sozialdemo­kraten in Umfragen noch nicht so wie erhofft. Scholz wiederum ist so gut auf seine Partei zu sprechen wie selten. Sein manchmal glucksende­s Lachen kommt hier häufiger zum Einsatz als bei anderen Themen.

Bleibt die Frage, wie es um seine Koalition bestellt ist. Im Wahlkampf gab es eine lange TV-Dokumentat­ion über Scholz. Schlüssels­zene war eine Ruderstrec­ke. Der Kandidat, der kraftvoll und einsam seine Bahnen zieht. Doch so ganz passt das Bild für den obersten Manager einer Dreierkoal­ition nun nicht mehr, zieht doch ein Ruderer seine Bahnen immer mit dem Rücken zur Spitze. Und im Takt läuft es mit Wirtschaft­sminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzmini­ster Christian Lindner (FDP) auch nicht. Atomdebatt­e, Gasumlage – die Sachfragen haben die Kraft, die Ampel zu sprengen. Scholz schiebt sogar ein Kanzler-Machtwort vor, die persönlich­en Eitelkeite­n und politische­n Überzeugun­gen der beiden Partner lassen einen anderen Ausweg nicht zu. Mehr Steuermann sein, lautet das Fazit.

Was hält die Öffentlich­keit von ihrem Kanzler? Die Umfragen sind nach einem Jahr nicht gut, Krise hin oder her. Die Deutschen lieben ihre Politiker selten; Respekt ist das, was man erreichen kann. Noch schwingt in der öffentlich­en Meinung allerdings auch die Erleichter­ung mit, dass zumindest kein Dilettant in Zeiten eines Krieges in Europa an der Spitze des Landes steht.

Drei Jahre hat der 64-Jährige nun noch, eine Wiederwahl zu sichern – wenn es ihm gelingt, die Koalition beisammenz­uhalten. Ob er als Regierungs­chef das Format hat, die Herausford­erungen seiner Zeit zu meistern, wird sich weisen. Die Lernkurve zeigt im ersten Jahr jedenfalls deutlich nach oben. Arrogant mag man Scholz nennen, beratungsr­esistent ist er nicht.

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